Opernball
fuhr sie fort: »Ich möchte Dir danken, daß Du Fred geholfen hast. Ich habe nicht mehr ein und aus gewußt. Fred ist mir vollkommen entglitten.«
Es schnürte mir die Brust zusammen, als sie das sagte. Ich war plötzlich so gerührt, daß ich nichts antworten konnte. Warum mußte Fred erst sterben, bis ich das hören durfte? Ich hatte immer gehofft, Fred würde es mir irgendwann sagen. Aber jetzt war mir, als hätte ich es in Wirklichkeit immer nur von Heather hören wollen.
Wir tranken Wein, und ich erzählte ihr von Freds Entzugstherapie. Dann von unserem Zusammenleben in Wien. Heather brachte Käse und Baguette. Sie sagte: »Im Kühlschrank war schon alles verschimmelt. Ich habe es weggeworfen und ein paar neue Sachen gekauft. Du mußt sie morgen in Deine Wohnung hinaufnehmen.«
Sie beschmierte das Brot immer noch mit Butter, bevor sie mit dem Messer ein Käsestück auf die vordere Kante legte und abbiß. Später öffnete ich die zweite Flasche Rotwein. Ich hielt ihre Hand, streichelte und küßte sie. Anfangs blieb sie reglos, aber sie ließ es zu. Dann zog sie meine Hand an ihre Wangen. Sie fragte mich: »Hast Du jemanden?«
»Nicht so richtig. Und Du?«
»Ich weiß es nicht. Er ist verheiratet. Mit einer jüngeren Frau. Das kann nichts werden.«
Sie betrachtete meine Finger und spielte mit ihnen. Sie war ein fremder Mensch. Und doch war da gleichzeitig die Erinnerung an ihr weiches Fleisch, an ihre erregten Brüste. Ich hatte unendliche Lust, diesen Körper noch einmal hautnah zu spüren.
Als ich am Morgen in meiner Wohnung aufwachte, fühlte ich Heathers Geruch. Er war an meinem Mund, er war an meinen Fingern. Ich hielt meine Hand unter die Nase und schloß die Augen. Es war zehn Uhr vormittags, als ich aufstand. Ich wollte Heather zu Mittag zum Flughafen bringen und anschließend ins Büro fahren. Ich preßte Orangen aus. Dann kaufte ich beim Bäcker in der Neustiftgasse Butterkipferl. Vor dem Gemüsegeschäft nebenan sah ich chilenische Weintrauben. Ich ließ mir ein Kilo geben. Am Verkaufspult standen mehrere Gefäße mit Blumen. Ich kaufte eine lange lila Rose. Schließlich stand ich mit einem vollbeladenen Tablett aus Edelstahl vor Heathers Tür. Ich klingelte. Sie schien noch zu schlafen. Ich klingelte mehrmals hintereinander, aber es rührte sich nichts. Ich stellte das Tablett auf das Brett des Gangfensters und holte aus meiner Wohnung den Reserveschlüssel. Bevor ich aufsperrte, drückte ich noch ein paarmal den Klingelknopf. Das Geschirr vom Vorabend war weggeräumt. Freds Bett war abgezogen. Am Rande lag ein neues Set Bettwäsche. Auf dem Schreibtisch fand ich ein handbeschriebenes Blatt.
»Mein lieber, dummer Ex!
Ich nehme ein Taxi zum Flughafen. Vergiß nicht, den Kühlschrank auszuräumen. Aber, bitte, vergiß die vergangene Nacht. Wir haben nur noch eines gemeinsam, einen toten Sohn. Heather.
P.S.: In Freds Schreibtischschublade fand ich ein Foto. Ich habe es mitgenommen. Es zeigt Fred und Dich am Colorado-River.«
Der Ingenieur
Zehntes Band
Ihr Christen seid nicht besser als Hunde.
Rasselt das himmlische Herrchen sein
Kreuz zur Belehrungsstunde,
umschwänzelt Ihr brav seinen Schatten,
macht Männchen und leckt dem satten
Egel das Beinchen mit triefendem Munde.
Leise winseln im Weihrauchgefimmel
Ideen – und gehen zugrunde.
Formiert Euch, anstatt in die Wolken zu gaffen,
in einem Kämpferbunde.
Blind sind die Pfaffen. Die echten Waffen
verlangen Blut, nicht Glockengebimmel.
Übt den Verrat! Werdet bissige Hunde!
Stürzt das Herrchen im Himmel! '
Dieses anonyme Gedicht stand in der Zeitschrift für alles. Seit Monaten hatte ich Gedichte herausgesucht und die zweiten Buchstaben der Zeilen aneinandergereiht. Nie hatte es einen Sinn ergeben. Aber hier war die erste Botschaft des Geringsten: Harmagedon lebt.
Bald danach war Mormon1 im Beta-Netz. Die Debatte über das Tausendjährige Reich war längst verebbt. Der Geringste nahm sie wieder auf, diesmal aber nicht mit Kommentaren, sondern mit Zitaten. Jeden Tag schrieb er einen anderen Auszug aus dem Buch Mormon. Zuerst die englische Originalfassung, dann die deutsche Übersetzung. Die Texte handelten immer vom letzten Gericht. Sie waren in einem merkwürdigen Flattersatz geschrieben, mit eingerückten Zeilen. Vergeblich suchte ich nach einer versteckten Botschaft. Ich dachte schon, der Geringste hätte den Code geändert, und ich wüßte ihn nicht mehr zu entziffern. Ich probierte es mit den
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