Opernball
dritten, vierten, vorletzten und letzten Buchstaben, las sie auch in umgekehrter Reihenfolge, nie ergab es einen Sinn. Später begriff ich, daß diese ersten Zitate aus dem Buch Mormon nur Probeläufe waren. Die Teilnehmer am Beta-Netz sollten sich an den eigenartigen Zeilenbruch gewöhnen. Dann erst kam die Botschaft. Es war ein Auszug aus dem 26. Kapitel des zweiten Buches Nephi. Wie immer schaute ich zuerst auf die Zeilenanfänge. Mehrere a und n, das übliche Durcheinander dieser häufigen zweiten Buchstaben. Doch weiter unten entdeckte ich das Wort Hilfe. Das konnte kein Zufall sein. Ich druckte den Text aus und schrieb die Buchstaben nebeneinander. Bis heute habe ich dieses Blatt aufbewahrt. Es war für mich wie eine Wiedergeburt.
And they that kill the prophets, and the
saints, the depths of the earth
shall swallow them up,
saith the Lord of Hosts;
and mountains shall cover them, and whirlwinds shall carry
them away, and
buildings shall fall upon them
and crush them to pieces and grind them to
powder. And they shall be visited with
thunderings, and
lightnings, and earthquakes, and
all manner of destructions, for the fire
of the anger of the Lord shall
be kindled against them, and they shall be as stubble, and the
day that cometh shall consume them, saith the Lord of Hosts.
Und die die Propheten und die Heiligen
umbringen – die Tiefe
der Erde wird
sie verschlingen, spricht der Herr der Heerscharen,
und Berge werden sie bedecken, und Wirbelstürme
werden sie hinwegwehen,
und Häuser werden über sie
stürzen und sie zerschmettern und
zu Staub zermalmen. Und sie werden
heimgesucht werden mit
brausendem Donner und feurigem Blitz
und Erdbeben und allerart Zerstörung, denn der
Zorn des Herrn
ist wie Feuer, und sie werden wie
Stoppeln sein, und
der kommende Tag wird sie
entflammen, spricht der Herr der Heerscharen.
Der Geringste teilte mir mit, wo ich ihn treffen könne: Nah an UNO. Hilfe an meinen Tueren. Osten.
Einmal, es war im Winter vor dem letzten Sonnwendfeuer, waren wir zur Kommunion auf der Donauinsel zusammengekommen. Und zwar in einem Sanitätshäuschen auf der westlichen Seite des gut zehn Kilometer langen Landstreifens. Im Sommer waren die asphaltierten Wege überfüllt mit Wanderern, Radfahrern und Badegästen. Im Winter verirrten sich nur ein paar Spaziergänger dahin. Das Sanitätshäuschen, in dem wir uns damals getroffen hatten, stand gewöhnlich leer. Es wurde nur bei Freiluftkonzerten und anderen Veranstaltungen benutzt.
Ich las die Mitteilung so, daß es auf der anderen Seite der Donauinsel, östlich der direkt an der Reichsbrücke liegenden UNO-City, ein anderes Sanitätshäuschen geben müsse, in dem der Geringste auf mich warte.
Als ich die Botschaft entschlüsselte, war es etwa sieben Uhr abends. Eigentlich hatte ich mich früh ins Bett legen wollen. Es fröstelte mich. Ich spürte Schmerzen in den Gelenken und im Rücken. Dennoch brach ich sofort auf. Den Sack Orangen, den ich nach der Arbeit im Supermarkt gekauft hatte, nahm ich mit. Bevor ich das Haus verließ, ging ich noch einmal in meine Mansarde zurück und steckte eine Taschenlampe ein. Draußen fiel Schneeregen. Ein paar Tage zuvor hatte es geschneit. Aber davon waren nur noch ein paar Dreckhaufen übriggeblieben, die von den Hausmeistern zwischen die geparkten Autos und von den Autobesitzern zurück auf den Gehsteig geschaufelt wurden. Es schien wieder kälter zu werden.
Ich fuhr mit der U-Bahn Richtung UNO-City. Eine Haltestelle davor, auf der Donauinsel, stieg ich aus. Sie kennen sicher die dortige U-Bahn-Station. Sie ist in die Reichsbrücke integriert und in der Nacht auch außen beleuchtet. Ich war der einzige, der ausstieg. Zuerst ging ich auf dem asphaltierten Hauptweg, der von Lampen gesäumt ist, in westlicher Richtung. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Das Wetter lud nicht gerade zu Spaziergängen ein. Nach einer Weile folgte ich einem Pfad zur Donau hinab. Der Schneeregen war stärker geworden. Der Uferweg lag in völliger Dunkelheit. Rechterhand konnte ich einen leichten Schein von den Lichtern des Handelskais am anderen Donauufer wahrnehmen. Vor mir sah ich den gelben Lichtstreifen der Reichsbrücke. Das gab mir Orientierung.
Schritt für Schritt tastete ich mich mit den Füßen voran. Ich wollte nicht die Taschenlampe benutzen. Manchmal erschrak ich und hielt inne. Es waren Wellen, die sich neben mir an den Steinen brachen. Die Geräusche, die sie erzeugten,
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