Opernball
Dann spürte ich seine Haare an meiner Stirn. Er nahm mein Gesicht in seine großen Hände, zog es an sich und küßte meine Tränen.
»Du hast mir gefehlt«, sagte er. Ich brachte kein Wort heraus. Er half mir auf die Beine und führte mich durch die Dunkelheit. Er öffnete eine Tür und zog sie hinter uns wieder zu. Wir waren in einem geheizten Raum. Er zog mich zu einem mit glattem Kunststoff überzogenen Brett. Ich setzte mich nieder. Als er ein kleines Licht anknipste, sah ich, daß wir in einem Sanitätsraum waren. Ich saß auf der Trage, die an einem fahrbaren Gestell befestigt war. Immer noch hielt ich den Sack Orangen.
»Die sind für Dich«, sagte ich. Er nahm sie mir aus der Hand. Dann zog er mir die durchnäßte Jacke aus und hängte sie über einen Elektrokonvektor, der mitten im Raum stand. Der rechte Ärmel meines Pullovers war mit Blut vollgesogen. Der Geringste sagte, ich solle mich hinlegen. Er untersuchte die Wunde an meinem Ellbogen. Er öffnete einen Metallschrank, der von oben bis unten mit Verbandszeug gefüllt war. Sorgsam verband er die Wunde. Er zog mir die Schuhe aus und klemmte sie zwischen die Rippen des Heizkörpers. Er trocknete meine Füße mit Mullbinden. Als er sie massierte, begannen sie zu schmerzen. Er war fürsorglich und liebevoll, wie ich ihn nie erlebt hatte. Mein Kopf glühte. Ich drehte mich zur Wand und mußte wieder weinen.Ich lag da und hatte diesen lang ersehnten, überirdischen Menschen vor mir, der mich streichelte und mich mit Orangen fütterte.
Leider gab es im Sanitätsraum keine Medikamente. Aber der erste Fieberschub ging vorbei, und wir konnten uns unterhalten. Der Geringste war wieder in den Vereinigten Staaten gewesen, und zwar in Hayden Lake, nahe der kanadischen Grenze. Die Siedlung gehört der Church of Jesus Christ Christian-Aryan Nations. Der Professor hatte mit denen früher über Internet Kontakt gehabt.
»Die reden und beten«, sagte der Geringste, »ohne die geringste Ahnung, wie sie die Sache angehen sollen. Sie haben Geld, aber sie haben keinen geistigen Hintergrund. Wenn sie einen Neger verdreschen, halten sie das für einen Erfolg. Joachim von Fiori war nicht einmal Pastor Butler bekannt.«
»Wohnst Du jetzt hier?« fragte ich.
»Nein. Ich benutze das Haus nur für Treffen. Leitner hat mir einen Schlüssel hinterlegt. Aber das Telefon ist abgestellt. Ich komme nicht ins Netz. Außerdem ist es tagsüber hier zu gefährlich. Die fahren mit der Streife vorbei.«
Später hielt er meine Hand und erzählte mir den ganzen Harmagedon-Plan in allen Details. Obwohl ich mich bemühte, zuzuhören, schweiften meine Gedanken immer wieder ab. Ich sah ihn sprechen, diesen wunderschönen Menschen, der genau wußte, was er wollte. Seine Augen spielten mit mir, sie lachten mich an. Sie erzählten mir, während er mich unterwies, wofür ich zuständig war, eine ganz andere Geschichte. Mein Gott, dachte ich, wie habe ich Dich vermißt.
Nach dieser ersten Begegnung seit dem Sonnwendfeuer war ich eine Woche krank. Später traf ich den Geringsten noch zweimal im Sanitätshäuschen. Er mußte mir alles noch einmal sagen. Im Prinzip kamen wir jeden Monat zusammen. Der Blade, der Polier, Pandabär und der Lange waren nur jeden zweiten Monat dabei. Wenn es zwischendurch etwas zu planen gab, trafen wir uns meist zu Einzelgesprächen, ohne den Geringsten. Eine solche Kommunion, wie wir sie immer noch nannten, war meist kurz. Wir redeten fast nur noch über die Details von Harmagedon.
Der Blade und der Polier waren, wie jeden Winter, arbeitslos. Gewöhnlich wurden sie im Frühjahr wieder eingestellt. Diesmal jedoch nicht. Die Firma baute jetzt vor allem im Osten, wo die Arbeitskräfte billiger waren. Aber auch in der ehemaligen DDR. Mich wollten sie zu einer Baustelle nach Leipzig schicken. Ich weigerte mich. Ich konnte mir das leisten, weil technische Zeichner, vor allem wenn sie eingearbeitet waren, nicht so leicht ersetzt werden konnten. Zur Strafe wurde mir ein Job im Hauptgebäude der Firma zugeschanzt. Ich saß in einem Großraumbüro direkt neben dem Eingang zum Chefzimmer und arbeitete an den Aufrissen für die Überdachung der Donauufer-Autobahn.
Sie meinen, ob wir unseren Plan in Frage stellten? Keinen Augenblick. Es ging nur um den perfekten Ablauf. Der Blade und der Polier hatten viel Zeit. Die meisten Vorbereitungen wurden von ihnen getroffen. Sie wollten immer zusammenarbeiten. Ich mußte das, soweit es ging, unterbinden. Zwar dürften sie zu dieser Zeit
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