Opernball
waren so unterschiedlich, daß ich immer wieder das Gefühl hatte, dort sei jemand. Dann kam von schräg hinten ein Licht näher. Ich ging auf einen Schatten zu, der den undeutlichen Schein vom Handelskai unterbrach. Es war ein Baum, der mir Schutz bot. Das Licht kam von einem Schiff auf dem Weg nach Budapest, dessen Scheinwerfer die Ufer abtasteten. Ich wartete, bis es an mir vorüber war. Dann lief ich ihm nach. Ich blieb im Dunkel, hatte aber vor mir den Weg gut beleuchtet. In der Nähe der Reichsbrücke blieb ich stehen. Wäre ich weitergelaufen, hätte ich mir den ganzen Umweg sparen können. Ich kletterte die Uferböschung entlang. Der Plastiksack mit Orangen war mir hinderlich. Zweimal rutschte ich an den glitschigen Steinen ab. Meine Schuhe waren mit Wasser gefüllt, als ich in sicherer Entfernung von der Brückenbeleuchtung wieder auf den Uferweg hinaufkroch. Dort blieb ich eine Weile auf dem eiskalten Boden liegen. Ich hatte Fieber. Auf meiner Stirn bildete sich kalter Schweiß, der sich mit den nassen Schneeflocken vermischte und mir über das Gesicht rann. Doch dann begann ich vor Kälte zu schlottern. Wenn ich noch länger liegen bleibe, dachte ich, werde ich erfrieren. Ich stand auf und versuchte zu hüpfen, um mich aufzuwärmen. Mein ganzer Körper tat mir weh. Ich mußte so schnell wie möglich dieses verdammte Sanitätshäuschen finden. Wenn es überhaupt existierte. »Hilfe an meinen Tueren« konnte vieles heißen. Vielleicht war es gar kein Sanitätshaus. Und wenn es eines war, konnte es auch drüben im 22. Bezirk stehen, am Badestrand östlich vom UNO-Gebäude. Von der Donauinsel war in der Botschaft des Geringsten ja nicht einmal andeutungsweise die Rede gewesen. Ich fühlte mich wie ein untrainierter Bergsteiger, den knapp vor dem Gipfel die Kräfte verlassen, der aber auch schon zu schwach ist, umzukehren. Ich sagte mir: Du schaffst es. Du kannst diese Grippe noch ein paar Stunden im Zaum halten. Deine Aufgabe ist so groß, daß sie sich von einem lächerlichen Virus nicht beeindrucken läßt.
Auf der östlichen Seite der Insel endete die Beleuchtung des Hauptweges schon nach etwa hundert Metern. Bevor ich den Asphalt erreichte, fiel ich über einen Grillrost. Ich verletzte mich am Ellbogen. Mit den Händen tappte ich im nassen Gras und sammelte die Orangen ein. Dann setzte ich mich auf den eiskalten Grill und schälte eine Orange. Es war mir nach Weinen zumute. Der Geringste wartete auf mich, und ich in meiner Unbeholfenheit war nicht in der Lage, zu ihm zu gelangen. Ich preßte eine größere Schale auf das Glas der Taschenlampe. Als ich sie einschaltete, gab sie einen ganz schwachen, rötlichen Schein von sich. Das reichte gerade aus, um den Boden zu sehen. Da faßte ich neuen Mut. Ich aß die Orange auf und machte mich wieder auf den Weg. Die Schneeflocken blieben mittlerweile liegen. Ich mußte mich beeilen, sonst würde man Spuren sehen. In meinen Schuhen schwappte das Wasser. Ich hörte es, aber ich spürte meine Füße nicht mehr. Sie waren wie fremde Klumpen, die ich den Weg entlangzog.
Nach einer Weile kam ich zu einem Häuschen mit zwei versperrten Türen. Anstatt einer Nachricht stand Männer und Frauen darauf. Ich war mittlerweile so weit von der Reichsbrücke und damit von der UNO-City entfernt, daß es aussichtslos schien, noch weiter östlich zu suchen. Von der Toilette führte ein Weg zum sogenannten Entlastungsgerinne, dem künstlichen Seitenarm der Donau. Das diesseitige Ufer war im Sommer ein beliebter Nacktbadestrand. Der Weg war hier breit und asphaltiert. Ich folgte ihm, zurück in Richtung Reichsbrücke. An einer Stelle lagen Holzstückchen auf dem Boden. Fast wäre ich daran vorbeigegangen. Ich drehte mich noch einmal um und schaute sie mir genauer an. Sie bildeten eine Acht. Ich scharrte sie mit dem Fuß auseinander und schaltete die Taschenlampe aus. Als ich im Dunkeln stand, sackten meine Knie ein. Ein Schwindel überkam mich. Ich mußte mich niederhocken und mich mit den Händen auf dem Boden stützen, sonst wäre ich umgefallen. Links von mir hörte ich Schritte.
»Ist da wer?« fragte ich.
»Steven Huff, der Geringste unter den Brüdern.«
Er flüsterte die Worte in seinem unverwechselbaren amerikanischen Akzent. Ich setzte mich auf den nassen Boden und begann zu weinen. So lächerlich ich mir auch dabei vorkam, ich konnte nicht anders.
»Bleib, wo Du bist«, sagte der Geringste. Ich hörte seine Schritte auf mich zukommen. Er stieß mit einem Fuß an mich.
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