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Opernball

Opernball

Titel: Opernball Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Haslinger
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der Frau des Bundeskanzlers. Der Kommentator sagte: »Nach so viel Unerfreulichem sind wir wieder in der heilen Welt des Opernballs. Werfen wir nun einen Blick in die Loge eines deutschen Getränkefabrikanten, der zu den alten Stammgästen dieses Balls der Bälle zählt.«
    Die Kamera wich von der Kanzlergattin und dem Schärpenträger, der uns nicht vorgestellt wurde, zurück, die Tanzenden wurden kleiner, ihre Anzahl vermehrte sich. Das Bild wurde langsam überblendet von Logenreihen, die am Bildschirm vorbeiglitten und dabei näher kamen. Ich hoffte, meinen Vater zu sehen, aber es waren nicht die Bühnenlogen. Herbert kam mit einem Glas Champagner zu mir. Er drehte am Fernsehapparat den Ton ab. Dann sagte er: »Wir haben jetzt genau zwei Stunden honeymoon im Imperial vor uns. Ist es nicht das, wovon man ein Leben lang träumt?«
    Wir küßten uns. Dann schüttete er mir sein Glas Champagner in den Ausschnitt und zog mir das Kleid aus. Aber so genau wollte ich Ihnen das gar nicht erzählen. Wir verbrachten jedenfalls eine wunderbare Stunde im Bett. Am Schluß lagen wir erschöpft in den feuchten Laken. Durch das geschlossene Fenster hörte man Martinshörner und Sirenen. Mein Mund war ausgetrocknet.
    »Ich habe Durst«, sagte ich.
    Herbert löste sich von mir. Halb aufgerichtet hielt er inne.
    »Wie spät ist es?« fragte ich. »Mußt Du schon gehen?«
    Er antwortete nicht. Ich schaute ihn an. Er starrte mit offenem Mund auf den Fernsehapparat und flüsterte: »Nein, nein, nein.«
    Ich richtete mich auf und sah nur noch Leichen. Es war grauenhaft. Ich begann zu heulen. Herbert umklammerte mich. Nur Leichen, übereinander liegend, mit offenen Augen und Mündern. Über die Abendroben rann Erbrochenes. Dann kam ein anderes Bild, in dem sich noch Menschen bewegten. Ich hörte sie schreien, obwohl der Ton nicht aufgedreht war. Sie schlugen um sich und sanken ganz plötzlich zusammen. Manche warf es ausgestreckt auf den Boden, manche hängten sich, auf der Suche nach einem letzten Halt, über Geländer und Brüstungen, manche umarmten einander und blieben mit offenen Mündern noch eine Zeitlang stehen, bevor sie umfielen. Es packte mich ein solches Entsetzen, daß mir die Luft wegblieb. Ich wollte laut schreien, aber ich konnte nicht.
    Herbert sagte: »Zieh Dich an, wir müssen zu Deinem Vater.«
    Wie ein Nachtwandler streifte ich aus dem Koffer irgendwelche Klamotten über. Was ich genau tat, weiß ich nicht. Da habe ich eine Gedächtnislücke. Ich war vollkommen weggetreten. Das nächste, an das ich mich erinnere, war, daß wir auf der Ringstraße standen und vergeblich versuchten, zur Oper zu kommen. Vor uns ein Meer von blauen Lichtern. Alles war vollgeparkt mit Feuerwehrautos und Sanitätsfahrzeugen. Ärzte, Polizisten und Feuerwehrleute schrien uns an, wir sollten den Weg frei machen. Wir probierten, von allen Seiten an die Oper heranzukommen. Es war aussichtslos. Wir wurden nur angeschrien. Vier oder fünf Hubschrauber hingen übereinander in der Luft. Der unterste landete jeweils hinter der Oper, offenbar am Albertinaplatz, die anderen warteten, bis er wieder gestartet war. Die Lautsprecherstimmen brüllten durcheinander. Es war ein Chaos. Am weitesten kamen wir durch die Mahlerstraße. Ich sah Männer mit Gasmasken Leichen aus den Opernarkaden hervorschleppen. Bald wurden wir und viele andere, die hier standen, zurückgetrieben. Die Straße mußte für Einsatzfahrzeuge frei bleiben.
    Wir irrten herum, bis wir erschöpft waren. Dann beschlossen wir, zu Sigrid zu gehen. Sie sah uns mit verheultem Gesicht an, als wären wir Geister. Dann fiel sie uns um den Hals.
    »Wo ist Vater?« war ihre erste Frage. Obwohl ich mich auf dem Weg zu ihr auf nichts anderes vorbereitet hatte als auf diese Frage, klang sie für mich wie die Frage Gottes an Kain: Wo ist dein Bruder Abel. Herbert behielt die Nerven. Er nahm Sigrid in seine Arme und versuchte ihr alles zu erklären. In der Wohnung lief der Fernsehaparat. Immer noch sah man Einstellungen aus dem Inneren der Oper. Die Bilder waren so starr wie die Leichen, die sie zeigten. Musiker lagen auf ihren Instrumenten. Es gab keinen Kommentar. Totenstille. Ich konnte das nicht mehr sehen und drehte den Fernseher ab. Im Radio wurde Trauermusik gespielt, alle paar Minuten unterbrochen von immer denselben Meldungen. Es sei eine unbeschreibliche Katastrophe, aber man könne noch nichts Genaueres sagen. Herbert suchte im Telefonbuch Nummern von Polizei und Rettungsdiensten. Überall,

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