Opernball
alles sehr schnell. Noch bevor die Rotorblätter zum Stillstand kamen, wurden unsere Kinder zum Hubschrauber gebeten. Dort wurde ihnen alles abgenommen, was sie bei sich hatten: Ringe, Ketten, Kaugummi, Zigaretten, Medikamente, selbst Taschentücher. Sie ließen es ohne den geringsten Widerstand zu. Sie sollten nichts bei sich haben als die Kleidung, die sie am Körper trugen. Bevor die Tür geschlossen wurde, rief Jerg: »In zwei Monaten sehen wir uns wieder, hier an dieser Stelle. Dann gibt es ein großes Fest.«
Ich stand mitten unter den winkenden Angehörigen und ließ mich von ihren Tränen anstecken. Irgend jemand lud zu einer Gebetsstunde. Ich blieb stehen und sah den anderen zu, wie sie im Zelt verschwanden. Dann warf ich Freds Hakenkreuz und seine Medikamente in die Mülltonne.
Ein Angestellter des Rafting-Unternehmens brachte mich nach Moab, wo ich mir ein Zimmer nahm und einen Tag lang ziellos herumirrte, bevor ich nach London zurückflog. Vier Tage später war ich in Wien. Den Arches-Nationalpark wollte ich mir das nächste Mal ansehen, dann, wenn Fred seine Qualen endlich ausgestanden hatte.
Am Vortag unserer Reise nach Moab hatte ich meinen Vater angerufen und ihm davon erzählt. Erst am Ende des Gesprächs fand ich den Mut, ihm zu sagen, daß ich in einer Woche nach Wien übersiedeln werde. Er tat zuerst, als hätte er mich nicht verstanden. Dann sagte er: »Nach spätestens einem Jahr wirst Du von den Wienern genug haben.«
Es folgte das, was ich befürchtet hatte. Er rief mich am nächsten Morgen, als ich schon mit der gepackten Reisetasche in der Tür stand, an, um mich zu einem Abendessen einzuladen. Wahrscheinlich hatten meine Eltern die ganze Nacht hindurch über meine Zukunft gesprochen. Ich sagte, daß ich in den drei Tagen, die ich nach der USA-Reise noch in London sein werde, keinen Abendtermin mehr frei hätte. Andererseits wollte ich meine Eltern vor der Abreise noch einmal sehen. So kam ich, als ich aus den USA wieder zurück war, zu einem kurzen Lunch vorbei. Meine Mutter hatte Brotspießchen mit Paprikawurst vorbereitet, wie ich sie von Kindheit an geliebt habe. Mein Vater servierte die Getränke doppelt. Während des Essens ging er ein paarmal mit schleifenden, kurzen Schritten in die Bibliothek. Er hatte Abnützungserscheinungen in den Knien und war schon einmal, mit nur geringem Erfolg, operiert worden. Meine Mutter fragte mich, ob ich wisse, wie es Fred gehe. Woher sollte ich. Sie hielt das Wasserglas mit beiden Händen fest. Ihre Haut war übersät mit braunen Altersflecken. Dann erkundigte sie sich, wo ich in Wien wohnen würde. Ich erwartete als nächstes eine Bemerkung, daß es für mich nicht angemessen sei, ausgerechnet nach Wien zu gehen. Statt dessen sagte sie, es bereite ihr Kopfzerbrechen, daß ich die BBC verließe und zu den Privaten wechselte. Als politischer Berichterstatter ginge ich hin, landen würde ich letztlich in der Werbeabteilung.
Meine Eltern hatten Kabelfernsehen. Aber sie boykottierten ETV ebenso wie CNN. Meine Mutter konnte Werbung nicht ausstehen. Wenn ein Werbeblock kam, drehte sie sofort den Fernseher ab. Nach meiner Lockerbie-Reportage war sie die einzige, die mich kritisiert hatte: »Warum mußt Du die Leichen so genau zeigen? Das hast Du doch nicht nötig.«
Vater ging in die Küche, den Kaffee holen. Mit zittriger Hand füllte er meine Tasse. Er setzte sich hin und sagte: »Wiener Meinl-Kaffee. Du kennst doch meinen Freund, den Maler Buck Dachinger. Er hat ihn aus Gmunden mitgebracht.«
Ich trank Kaffee und aß die wunderbaren Powidltaschen meiner Mutter. »Schmecken sie Dir noch?« fragte sie. »In Wien wird es sicher jede Menge davon geben.«
»Ihr müßt mich bald besuchen.«
Meine Mutter nickte liebevoll, mein Vater schien von dem Gedanken nicht begeistert zu sein. Er lenkte ab. »Ich habe gelesen«, sagte er, »ETV hat CNN mehr als dreißig Prozent der britischen Zuschauer abgenommen. Es ist doch besser, wenn Europa seine eigenen Nachrichten macht.«
Meine Mutter lachte auf. Sie wisperte mir zu, als würde sie eine Sünde verraten: »Er hat heute ETV geschaut.«
Mein Vater verschwand wieder in der Bibliothek und brachte endlich den Grund für seine Rundgänge zum Vorschein. Es war ein handbeschriebenes Blatt Papier. Darauf stand oben seine ehemalige Wiener Adresse: 3. Bezirk, Rasumofskygasse 16 (oder 26?). Er erinnerte sich nicht mehr an die Hausnummer. Darunter stand: Café Zartl. Rasumofskygasse Ecke? Hier hatte er die Querstraße
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