Opernball
vom Ziel abbringen würde. Er sagte: »Sieben oder neun Personen ergeben die richtige Größe. Darunter ist die Gruppe zu schwach, darüber hat sie keinen Bestand. Und acht geht nicht, weil sie dann in zwei gleich starke Teile zerfallen kann.«
Wie er auf die Zahl Sieben oder Neun kam, ist mir nie ganz klargeworden. Er hat sich immer mit Geheimbünden, Verschwörungen, Ketzer- und Widerstandsgruppen beschäftigt, und mit dem Glauben, der solche Gruppen bis in den Tod zusammenhielt. Vor allem interessierten ihn Ketzergruppen des Mittelalters, aus dem dreizehnten, vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert, die gegen die Herrschaft der Kirche kämpften, für ein drittes, ein tausendjähriges Reich, in dem es keine Knechtschaft mehr geben werde. Keiner von uns hatte davon irgendeine Ahnung, auch Feilböck nicht. Der Geringste konnte das alles sehr anschaulich darstellen: wie die Revolutionäre, die nichts anderes predigten als ein einfaches, gottgefälliges Leben, nacheinander von der Kirche ausgerottet wurden. Wie sie gefoltert wurden und, anstatt abzuschwören, noch auf dem Scheiterhaufen die Idee einer neuen Gemeinschaft verkündeten. Der Geringste gab unserer kleinen Gruppe der Volkstreuen einen großen geschichtlichen Zusammenhang. Wir hatten unzählige Vorfahren, deren Blut nach Rache schrie.
Natürlich beschäftigten wir uns auch mit der Wiederaufnahme der Idee des dritten Reichs bei Moeller van den Brück und mit den Anfängen der nationalsozialistischen Bewegung. Mit der Thule-Gesellschaft, in der Alfred Rosenberg Mitglied war, mit den Artamanen, bei deren heimlichen Begegnungen Richard Walter Darre und Heinrich Himmler zusammentrafen. Wir befaßten uns sogar mit Widerstandsgruppen gegen die Nazis. Einmal brachte der Geringste den Bericht eines Gefängnisseelsorgers, der fassungslos miterlebt hatte, wie ihm das Mitglied einer kommunistischen Widerstandsgruppe unter dem Galgen das Kreuz aus der Hand schlug und statt dessen »Hoch lebe Stalin!« rief. Wir haßten Kommunisten, aber diese bedingungslose Treue zu einer Idee beeindruckte uns.
Was unser Ziel war? Heute würde ich sagen, in erster Linie waren wir selbst es, der Bestand und Zusammenhalt unserer Gruppe. Der Aufbau unserer Wehrbereitschaft. Unserer Unbesiegbarkeit. Niemand sollte in der Lage sein, uns dreinzureden oder uns von unseren Vorhaben abzubringen. Wir wollten in die Geschichte eingreifen. So hochtrabend das vielleicht klingen mag, so ernst war es uns. Wir wollten uns wehren. Denn eine Erfahrung war uns allen gemeinsam: Wenn wir nichts tun und nur auf bessere Zeiten hoffen, wird alles noch schlimmer. Sollten wir warten, bis wir alle arbeitslos waren? Sollte ich warten, bis auch die ersten bautechnischen Zeichner aus dem Osten, oder gar aus Afrika sich bei uns zum Hungerlohn anbieten?
Welche Aufgaben wir hatten, für welche Zukunft wir eintraten, wurde uns erst nach und nach bewußt. Dazu gab es jeden Sonntag zur Mittagszeit die Totenmesse. Wir nahmen mit unseren Vorfahren Kontakt auf. Im High-Tech-Raum wurden die blauen Scheinwerfer eingeschaltet und am Altar die drei Kerzen angezündet. Dann setzten wir uns auf die im Kreis angeordneten Drehstühle. Der Geringste ging zum Pult und las aus Schriften und Büchern vor. Danach redete er über das Vorgelesene. Er erklärte die geschichtlichen Zusammenhänge, und er legte dar, was die Texte für uns bedeuteten. Er war immer vorbereitet. »Wer ist die Kirche heute?« fragte er. »Wer ist dafür verantwortlich, daß Du und Du und Du und all die rechtschaffenen Leute im Land keinen Einfluß mehr auf ihr eigenes Schicksal haben? Wer ist schuld daran, daß es heute Millionen von Menschen in Europa verwehrt ist, ehrlich ihr Brot zu verdienen?«
Die Lesung und die Auslegungen dauerten eine bis eineinhalb Stunden. Dann setzte sich der Geringste auf den freien Stuhl, und es gab ein Gespräch, das oft bis zu zwei Stunden dauerte. Die Stühle waren nicht fest vergeben. Jeder konnte sitzen, wo er wollte. Der Geringste nahm den Platz, der übriggeblieben war. In den Gesprächen spielte Feilböck eine große Rolle. Er neigte dazu, vor allem bei den NS-Schriften, alles wortwörtlich zu nehmen. Der Geringste aber sagte: »Die Wahrheit gibt es noch nicht. Es liegt an uns, sie zu finden. Die Toten sind nur Wegweiser. Aber vergessen wir nicht: Sie sind allesamt gescheitert.«
Im Mittelpunkt der Totenmessen standen die Idee der Volksgemeinschaft und die Idee des Aufbaus einer unbesiegbaren Widerstandszelle.
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