Opernball
unser Werk vollenden und die Wende der Zeit. Unsere Feinde glauben, sie haben einen Sieg errungen. Doch dieser vermeintliche Sieg der Feinde dient der Zeitenwende, der Vollendung unseres Werks. Er ist es, der den Knochen das Mark gibt, den Verstand weckt und die Hingabe leidenschaftlich macht. Er gehört zum Erlösungsplan, damit die Speerspitze noch härter geschmiedet wird. Erst an den letzten Tagen wird sich zeigen, wer die Heiligen sind. Dann, wenn erkennbar geworden ist, was unser Auftrag war. Harmagedon ist hier.«
So redete der Geringste nach seiner Wiederkunft. Er trug nun lange Haare und einen Seehundbart. Die Nase war schmaler geworden und spitzer. Man hätte ihn für einen übriggebliebenen Hippie halten können. Vom Gürtelputzen wollte er nichts mehr wissen. Er plante den großen Umsturz, den Befreiungsschlag. Anfangs hielten wir ihn für übergeschnappt. Wir dachten, die Amerikaner haben ihm nicht nur das Gesicht operiert, sondern gleich den ganzen Kopf verdreht. Wir sollten aber schnell merken, daß das, was uns irritierte, eine Rolle war, die er einstudiert hatte, eine Missionsrolle.
Vor der christlichen Religion hatten wir immer Achtung gehabt. Sie ist die Religion der Europäer, der Nährboden der überlegenen europäischen Kultur. Und sie enthält die Botschaft des kommenden tausendjährigen Reiches. Anders war es mit der katholischen Kirche. Sie trägt diese Botschaft in sich, aber sie ist gleichzeitig der alte Feind dieser Botschaft. Der Geringste hatte mit der Kirche, die ihn erzogen hatte, nichts mehr im Sinn. Anders Feilböck. Nach der Auslegung von kirchenkritischen Texten durch den Geringsten war es ihm immer wichtig gewesen zu betonen, daß sich der Kampf damals gegen die alte Machtkirche richtete, die in unseren Breiten längst in Agonie liege. Die Kirche sei heute nicht mehr der Feind. Er warnte uns davor, die Kirche zu verspotten.
»Wer das macht«, sagte er, »auch wenn er ihr persönlich nicht angehört, spielt dem Feind in die Hände. Es gibt nur eine wirkliche Religion, und das ist die christliche. In ihre unterschiedlichen Lehren mischen wir uns nicht ein.«
Und dann verwendete er ganz überraschend das Wort Toleranz. Sonst hatte er über Toleranz immer nur gespottet. »Ein Toleranzi hier und ein Toleranzi dort, und am Schluß sind wir Neger. Toleranz heißt, sehenden Auges der eigenen Vernichtung entgegengehen«, hatte er gesagt. Nur einen einzigen sinnvollen Gebrauch für dieses Wort ließ er gelten.
»Toleranz«, sagte er, »hat ihren Ursprung in der gegenseitigen Achtung der christlichen Lehren. Dort ist sie entstanden, nur dort hat sie Gültigkeit. Niemals darf der wahre Volkspolitiker der einen Religion widersprechen. Niemals darf er sich in ihre internen Konflikte einmischen.«
Der wahre Volkspolitiker. Das war typisch Feilböck. Davon träumte er. Nachdem alle seine Pläne, unsere Gruppe auszuweiten, beim Geringsten abgeblitzt waren, kam er uns mit der Kirche. Ich erinnere mich noch gut an die Totenmesse, als er plötzlich aufstand und einen Vortrag hielt. Er war gut vorbereitet, aber er wagte es natürlich nicht, ans Pult zu gehen. Das war dem Geringsten vorbehalten. Feilböck stand nur auf. Aber auch das war schon ungewöhnlich genug. Und er hielt Hitlers Mein Kampf in der Hand. Während er redete, schlug er das Buch auf.
»Die Kirche«, sagte er, »ist das Brot der einfachen Leute. Die tiefreligiösen Menschen auf dem Land sind die natürlichen Verbündeten gegen die Überfremdung des Kontinents. Schaut euch unsere Bauern hier in Rappottenstein an. Die Kirche steht auf unserer Seite im Kampf gegen die alten und neuen Parasiten in Europa. Auch wenn der eine oder andere Kirchenmann sich in linker Verblendung gefällt und Beelzebub füttert mit den Gaben des Herrn, uns hat die Geschichte der Kirche gelehrt, daß der Kampf, will er erfolgreich sein, mit Feuer und Schwert zu führen ist. Die ständige Niederlage des Tausendjährigen Reiches schreit nach Rache, aber heute ist nicht mehr die Kirche der Feind. Hitler hat Jesus den großen Gründer der neuen Lehre genannt. Er hat ihn bewundert, denn Jesus machte aus seiner Gesinnung dem jüdischen Volke gegenüber kein Hehl, griff, wenn nötig, sogar zur Peitsche, um aus dem Tempel des Herrn diesen Widersacher jedes Menschentums zu treiben.«
So sprach und las Feilböck. Und so weit folgte ihm der Geringste. Mit einer Ausnahme. Der Kampf gegen die Juden war für ihn nicht wichtig. Er sagte: »Heute ist der Antisemitismus
Weitere Kostenlose Bücher