Opernball
Hauptwegen auf die kleineren Kieswege abbogen. Zum Gasthaus gab es von der Seite des Arsenals, diesem ehemaligen Waffendepot der K.u.K.-Armee, eine Zufahrt. Ah, Sie kennen das Gasthaus. Gelegentlich stieg dort jemand ins Auto und fuhr weg. Dann haben Sie vielleicht auch den umzäunten Spielplatz, schräg gegenüber vom Gasthaus, gesehen. Das Tor stand offen. Ich ging hinein, Feilböck folgte mir.
»Hallo, Feilböck«, sagte ich. Er antwortete: »Guten Abend, Herr Ingenieur. Da sind wir wieder.«
Ich fragte ihn: »Wer hat den Ort ausgewählt?«
Er sagte: »Ich habe zwei Mitteilungen bekommen. Hoffen wir, daß die erste von Joe war.«
Wir untersuchten das Baumhaus und die Lokomotive. Beide waren leer. Draußen hatten inzwischen auch die anderen miteinander zu reden begonnen. Immer noch drückten sie sich aneinander vorbei, doch auch sie begannen im Vorbeigehen die ersten Worte zu wechseln. Pandabär war dick geworden, dicker als der Blade. Der sagte zu ihm: »Na, Du alter Preßling.«
Pandabär antwortete: »All die guten Lämmer habe ich allein essen müssen. Und kein Ausgleichssport am Gürtel.«
Ein mit Bänken gesäumter Fußweg führte vom Spielplatz ostwärts in die Gegend der Einfahrt zum Schnellbahntunnel. Auf einer Bank saß ein heruntergekommener Mann. Er trug zerschlissene Jeans, hielt den Kopf gesenkt und schien vor sich hin zu dösen. Seine langen schwarzen Haare wurden von einer verkehrt herum aufgesetzen roten Baseballkappe aus dem Gesicht gehalten.
Sollte er der Grund sein, warum wir hierherbestellt wurden? Wollte der Geringste zum Einstand einen Kulturputz vornehmen? Sollten wir einen Dealer klatschen? Wir ließen ihn nicht aus den Augen, suchten aber weiter die Umgebung ab und warteten auf den Geringsten. Er kam nicht. Als wir uns zusammenstellten, um zu beraten, ob wir noch länger warten sollten, stand der Dealer auf, kam mit leicht schleppenden Schritten auf uns zu und sagte: »Mein Name ist Judas.«
Das Wort Judas sagte er in englischer Aussprache: Dschudäs.
Der Blade antwortete: »Willst eine in die Goschn, Süchtler?«
Doch der Langhaarige blieb unbeeindruckt. »Dschudäs«, sagte er, »der Verräter. Der Geringste unter den Jüngern von Dschisas.«
Wir waren drauf und dran, ihm eine runterzuhauen. Der Blade schnappte ihn vorne am T-Shirt, wir traten von hinten an ihn heran und packten ihn am Genick. Er legte seine rechte Hand auf Feilböcks Arm. Am obersten Glied des kleinen Fingers, nahe der Handwurzel, waren zwei schwarze Achter zu sehen. Im ersten Moment erschrak ich.
Gleich darauf war ich überzeugt, daß der Mann ein Polizeispitzel war. Die Achter waren nicht eintätowiert, sondern aufgemalt.
Der Mann fuhr fort: »Das Tausendjährige Reich braucht nicht nur Propheten, es braucht auch Kämpfer. Nun ich bin gekommen.«
Die Sprache war es, die Stimme, an der wir ihn wiedererkannten. Auch wenn er sich einen amerikanischen Akzent zugelegt hatte, klang seine Stimme eben doch, wie wenn der Geringste mit amerikanischem Akzent sprach. Aber es war ein fremdes Gesicht. Ein langer Seehundbart bedeckte die Oberlippe. Bekannt hingegen waren uns der blauädrige Handrücken und die wurstigen Finger. Wir ließen ihn los.
»Mein wirklicher Name«, sagte er, »ist Steven Huff. Ich bin Mormone auf Missionsreise durch Europa. Mein Missionsname ist: der Geringste. Ich bitte Euch, mich so zu nennen von jetzt an. Nur so. Wenn Euch jemand fragt, mit wem Ihr habt gesprochen, Ihr antwortet: mit einem Spinner, dem mormonischen Missionar Steven Huff.«
Weil wir ihn ungläubig anschauten, zeigte er uns seinen amerikanischen Paß. Er war auf Steven Huff ausgestellt. Geboren in Arizona. Das Foto stimmte mit seinem Gesicht überein. Er zeigte mit dem Finger auf das Geburtsdatum und sagte, nunmehr akzentfrei: »Siehe, ich komme bald.«
Rechnete man zu dem im Paß eingetragenen Geburtsdatum 88 Tage dazu, kam das wirkliche Geburtsdatum des Geringsten heraus.
Da klopften wir ihm auf die Schulter.
»Toll«, sagten wir. »Phantastisch, Joe.«
Er legte einen Finger an den Mund.
»Steven Huff«, sagte er, »oder der Geringste. Meine Identität ist lupenrein. Ich habe studiert in Princeton. Nachweislich.«
»Okay. Ist ja gut«, meinte der Polier. »Wie hast Du das geschafft? Niemand wird Dich wiedererkennen.«
Wir schauten uns seine Nase an. Sie wirkte echt. An der Wurzel waren zwei Faltchen zu sehen. Aber da mußte man schon genau schauen. Der Blade zog an seinen Haaren. Sie waren echt. Er sagte: »Man
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