Opernball
erzählte ihr, daß mein Vater nach Wien komme.
Sie aß mit Bedacht ihr Stück Kuchen. Dann sagte sie: »So sollen wir alten Deppen also noch einmal zusammentreffen.«
Ich erzählte ihr, daß es bei dem Exilantentreffen eine Diskussion im Auditorium Maximum der Wiener Universität geben werde, bei der mein Vater auf dem Podium sitze. Ich fragte sie, ob ich ihm ihre Telefonnummer geben solle.
»Nein, sagen Sie ihm gar nichts von unserem Gespräch. Ich werde ins Auditorium Maximum kommen. Dann werde ich ja sehen, ob er mich noch erkennt, oder erkennen will.«
Beim Abschied umarmte ich sie.
Daheim saß Fred im Wohnzimmer. Ich erzählte ihm von meinem Besuch.
»Oh, là là«, sagte er. »Die Familie bekommt Zuwachs.«
Später fragte er mich: »Warum hast Du mich eigentlich nicht Kurt getauft?«
Bevor ich mit meinem Vater zusammentraf, sah ich ihn im öffentlichen Fernsehen. Er wurde vorgestellt als »Ken Fraser, Vater des bekannten Osteuropa-Reporters Kurt Fraser«. Dann war ein kurzer Ausschnitt aus seinem Podiums-Beitrag zu sehen. Er mußte das Tischmikrophon mit seinem Nachbarn teilen. Anstatt es an sich heranzuziehen, lehnte sich mein Vater schräg über den Tisch und hielt es mit der ausgestreckten linken Hand fest. Während er sprach, glitt sein Daumen immer wieder über das Schutzgitter des dynamischen Mikrophons und unterstrich seine Worte mit Kratzgeräuschen. »Heute sehe ich viel klarer als damals, bei meiner Flucht, daß dieses Land nur eine einzige Zukunft für mich hatte, nämlich die, ermordet zu werden. Aber heute sehe ich auch, daß dieses Land aus seinem Schatten herausgetreten ist. Ich habe in den letzten Tagen viele junge Menschen getroffen. Auch in meiner alten Schule in der Boerhaavegasse. Es erfüllt mich mit Freude, sagen zu können, daß diese Menschen meine Geschichte auch als die ihre anzuerkennen bereit sind. Und das ist mir wichtiger als alle offiziellen Akte, die um unsere Anwesenheit herum gesetzt wurden.«
Das war ein neuer Ton. Ich sollte noch mehr staunen, als ich meinen Vater am nächsten Vormittag traf. Er bildete in der Rezeptionshalle des Hotels Wandl den Mittelpunkt einer kleinen Gesellschaft. Etwa zehn alte Menschen, alle siebzig Jahre und darüber, tauschten Jugenderinnerungen aus. Man war sich einig, daß mein Vater am Podium das Richtige gesagt hatte. Ich wurde allen vorgestellt. Einige sprachen mit englischem oder amerikanischem Akzent.
Eine Frau tat sich schwer, die Worte zu finden. Sie sagte, sie habe seit über fünfzig Jahren nicht deutsch gesprochen.
»Was machen wir nun«, fragte ich meinen Vater, als er sich – die Adressen waren längst ausgetauscht – endlich von seinen Schicksalsgenossen freireden konnte.
»Wenn Du Zeit hast, und es Dir keine zu großen Umstände macht, ich würde gerne den Wienerwald wiedersehen.«
So fuhren wir durch Ottakring hinauf zur Jubiläumswarte. Mein Vater war begeistert, wie schnell das ging. Ich war noch nie dort gewesen. Wir parkten das Auto neben einem Restaurant.
»Das ist neu«, sagte mein Vater und deutete auf einen Betonturm mit Wendeltreppe, der schon deutlich vom Verfall gezeichnet war. »Die wirkliche Jubiläumswarte steht da hinten.«
Er zeigte auf einen restaurierten Turm mit Spitzdach, der nicht höher war als die Bäume, die ihn umgaben. Ich bot Vater meinen Arm an. Er hängte sich ein, und wir gingen in kleinen Schritten einen Wanderweg entlang. Er erzählte mir, daß er die halbe Regierung kennengelernt habe. Besonders angetan war er vom Kunstminister.
»Das ist der richtige Mann«, sagte er. »Der müßte Bundespräsident werden, dann würde das Land seinen schlechten Ruf als Nazihochburg verlieren.«
Je länger er sprach, desto freundlicher redete er über sein Herkunftsland und über die Leistungen der Sozialdemokratischen Partei. Dabei hatte er vor seiner Emigration die Sozialdemokratische Partei enttäuscht verlassen und war zu den Kommunisten gegangen. Beeindruckt hatte ihn offenbar auch der Finanzminister. Er sagte: »Das ist ein Sozialist, der die Welt versteht. So einer fehlt uns in England. Er hat mich gefragt, wie ich die Probleme mit der Ostgrenze beurteile. Ich habe geraten, massiv in die Regionen hinter der Grenze zu investieren. Dann werde sich das Flüchtlingsproblem mit der Zeit von selbst erledigen. Er hat geantwortet: ›Sie haben vollkommen recht, Herr Fraser. Aber um einen wirklichen Effekt zu erreichen, müßte man beträchtliche Budgetmittel heranziehen. Es wird schwer sein, unsere
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