Opernball
sagte er, »das ist mir zu umständlich. Ich werde vom Flughafen abgeholt und ins Hotel Wandl gebracht. Dort habe ich alles, was ich brauche.«
»Ich hole Dich am letzten Tag vom Wandl ab. Wir können dann irgend etwas unternehmen. Anschließend bringe ich Dich zum Flughafen.«
Er war einverstanden. Wie es schien, hatte mein Vater vor, allein zu kommen. Mir fiel ein, daß er mir vor meiner Abreise nach Wien ein paar Adressen aufgeschrieben hatte. Am Wochenende fand ich Zeit, mich darum zu kümmern. Den Zettel fand ich in einem Stoß von Unterlagen, der so, wie ich ihn vor Monaten ausgepackt hatte, im Bücherregal lag und dort höchstens ein paarmal von meiner polnischen Kinderärztin abgestaubt worden war.
Die Frau, nach der sich mein Vater erkundigt hatte, hieß Rosa Novotny. Ich blätterte im Telefonbuch. Es gab viele Novotnys, manche mit leicht abweichender Schreibweise – Novotni, Nowotny, Nowotni –, aber keine einzige Person dieses Namens in der Salmgasse. Ich fuhr mit dem Auto hin, in der Hoffnung, daß wenigstens die Nummer stimmte. Immerhin hatte sich mein Vater an die Hausnummer der Rosa Novotny besser erinnert als an seine eigene. Die Salmgasse war mit dem Auto gar nicht so leicht erreichbar, wie es auf dem Stadtplan ausgesehen hatte. Durch ein undurchschaubares System von Fußgängerzonen und Einbahnstraßen wurde ich von meinem Ziel abgehalten und zu einer längeren Rundfahrt im dritten Bezirk gezwungen. Bis ich auf einmal vor dem Café Zartl stand. Ich bog nach links ab in die Rasumofskygasse und parkte.
Der Wind riß die Blätter von den Bäumen. Sie wirbelten durch die Straße und stauten sich an den geparkten Autos. Es war Samstag nachmittag. Die Geschäfte hatten geschlossen. Wenn die Ampel beim Café Zartl umschaltete, kamen zwei, drei Autos, dann war es wieder ruhig. Die Gasse führte leicht bergauf in Richtung Landstraßer Hauptstraße. Kurz davor müßte die Salmgasse abzweigen. Was mich überraschte, waren die vielen alten Ahornbäume, weiter oben auch Linden und Rotbuchen. Mein Vater hatte sie nie erwähnt. Ich ging an einer kleinen Filiale der Anker-Bäckerei vorbei und stand plötzlich vor der Nummer 16. Ich las die alten Klingelschilder. Auf der anderen Straßenseite war das Geologische Institut. Wenn mein Vater anderen Emigranten erzählte, wo er gewohnt hatte, sagte er immer: »Im dritten Bezirk, Rasumofskygasse, direkt gegenüber vom Geologischen Institut.«
Es gab keinen Zweifel. Ich stand vor dem Haus, in dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Einen Moment überlegte ich, ob ich einfach irgendwo klingeln sollte. Da ging die Tür auf, und heraus kam ein junges Pärchen mit Fahrrädern. Ich trat zur Seite. Der Junge hatte eine Stehfrisur, die über den Ohren ausrasiert war. Er trug eine modische Trachtenjacke.
»Kann ich Ihnen helfen?« fragte er.
»Nein, danke. Oder doch. Kennen Sie zufällig einen Finkelstein?«
»Nie gehört. Soll der hier wohnen?«
»Vielleicht.«
Er hob den Fuß über die Fahrradstange. Das Mädchen sagte: »Ich wohne nicht hier. Tut mir leid.«
Mit ihren langgelockten, blonden Haaren sah sie aus wie ein Engel. Der Junge wandte sich noch einmal zu mir. »Gehen Sie hinein und klingeln Sie im ersten Stock bei Pfeiffer. Meine Mutter kennt alle.«
Ich bedankte mich und sah ihnen nach, wie sie gegen die Einbahnstraße zum Café Zartl hinabfuhren. Um ihre Füße wirbelte das Laub.
Nach kaum zweihundert Metern zweigte rechterhand die Salmgasse ab. Am gelb gestrichenen Eckhaus war eine Tafel angebracht: Robert-Musil-Wohnung. Darunter stand: Grazer Autorenversammlung. Ob mein Vater Robert Musil gekannt hatte? Vielleicht hatten sie einander beim Schneider in der Geologengasse getroffen.
Die Salmgasse war schmal und mit Steinen gepflastert. Meine Schritte hallten in die Vergangenheit, als wären sie die Schritte meines Vaters. Aber auch hier wurde ich nicht fündig. Es gab, wie ich befürchtet hatte, kein Schild mit dem Namen Novotny. Ich klingelte beim Hausmeister. Ein älterer Mann kam heraus.
»Wohnt in diesem Haus eine Rosa Novotny?«
»Hier nix Novotny.«
»Sie hat vor fünfzig Jahren hier gewohnt.«
»Ich nix lange hier. Nix Novotny.«
»Gibt es einen alten Menschen im Haus, der mir weiterhelfen könnte?«
Er überlegte einen Augenblick.
»Alt Mensch ist Neumann. Ist Frau. Frau Neumann in zweiter Stock.«
Der alte Lift war nur mit einem Schlüssel benutzbar. So ging ich die breite Treppe hinauf, die sich um den Liftschacht herumwand. Im
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