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Opfer (German Edition)

Opfer (German Edition)

Titel: Opfer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Bernard Burns
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und an Piccadilly. Und als er auf die Einfahrt zum Pasco de la Reforma mit ihrer Tankstelle blickte, dachte er sehnsüchtig an Coussous marmorne Pferdestatuen am Zugang zu den Champs Élysées.
    Als er an den Rinnstein kam, wartete er, um einen überfüllten Bus – » Vamanos!« – abfahren zu lassen, ehe er niedertrat und schnell wieder zurücksprang, weil ein anderer Bus, ein alter Klapperkasten hinaus nach Coyoacan, vorbeisauste und ihm ein Streiflicht auf all die Indiogesichter und zusammengepferchten Indioleiber in dem anämischen Licht seines Innern gewährte, ehe er mit anderen Autobussen, Taxis, Personenwagen, Lastern und Straßenbahnen – »Vamanos!« – um den Caballito herumzukreisen begann. Als Rodney jetzt wartete, dass eine klingelnde Straßenbahn vorbeiratterte, blickte er oberhalb ihrer gelben Länge auf das gegenüberliegende Gebäude der Nationallotterie, immer noch so wie 1936, als er zum letzten Mal hier gewesen war, ein rostiges Gerippe aus Balken und Gerüsten.
    Sechs Jahre seit 1936. Sechs Jahre des Umherirrens in der westlichen Welt – nein, der westlichen Ödnis. Denn seit 1936 war das die Welt von Jahr zu Jahr mehr geworden: eine Ödnis. Von Jahr zu Jahr öder. Und wer war es noch, der gesagt hatte, würde die Welt von Künstlern regiert werden, wäre sie bald eine »lärmende Ödnis«? Wie falsch. Und, selbst wenn es stimmte, wie unbewiesen. Es sei denn, man könnte von einer verschönenden Warte aus sagen, Adolf Hitler und Winston Churchill wären genauso Maler wie Politiker. Dennoch, vielleicht wurde die Welt, wenn auch nicht von Künstlern, so doch von verhinderten Künstlern regiert. Und vielleicht war es eben das – Frustration –, was unter anderem mit ihr nicht stimmte. Unter anderem. Dingen wie Lissaboner Erdbeben … Quai Voltaire, ein Rosenmeer … Drei Jahre seit 1939. Olivia. Wo war sie jetzt? Am Quai Voltaire in einem Rosenmeer? Oder noch in Nizza? Und Fortune Riley. Wie wäre diese Fahrt nach Mexiko verlaufen, was wäre sie geworden, hätte ihn sein Weg nicht durch New Orleans geführt und hätte er nicht, nach drei Jahren der Trennung, Fortune Riley wiedergesehen? Ach, Fortune! Fortune Riley! Der Rute erste Anbeterin! Als er jetzt an sie dachte, erinnerte er sich daran, wie sie sie damals beim ersten Mal angeschaut und gesagt hatte: »Ich liebe dich! Nein« – und sie hatte ihn weggestoßen – »nein, nicht dich, Rodney! Sondern dieses wundervolle Ding hier. Die Rute!« Sie war niedergekniet, um sie zu betrachten, sie anzufassen, sie zu küssen, sie in den Mund zu nehmen. Später dann hatte sie ihm gesagt, dass sie auch ihn liebe.
    Klingling! Die Straßenbahn fuhr ab. »Ultimas Noticias!« Klingling! »Grafico!« Er bahnte sich – »Vamanos!« – durch den hellschimmernden Wirbel von Wagen und Menschen dorthin, wo sich – »Para boy!« – der Paseo de la Reforma in der Dunkelheit in Richtung Chapultepec erstreckte. Er dachte an Fortune Riley …
    Fast ohne es zu merken, war er stehengeblieben. Er stand unter den von der Nacht verborgenen Ästen der Bäume und schaute hinauf – dort oben, gleich dort oben, und gleich dahinter, treiben die Dinge, die das sind, was ich bin, treiben umher, lasch und lau – klapp – schweben leicht, schweigend, grau, so formlos – klapp, klapp – ach, sie zu greifen, sie festzuhalten, ihnen GESTALT zu geben! – klapp, klapp –, ein paar Worte, sinnlich geflüstert, und eines hörte er heraus: »Quieres?«, mit heiserer Stimme gehaucht, und eine Hand, die sanft, ganz sanft über seinen Ärmel strich, und ein geschminktes junges Gesicht neben dem seinen. Ein weißes Hemd in der obsidianfarbigen Nacht …
    »Ich verstehe kein Spanisch!«
    »Pero …«
    »Nein!«
    Unsanft, fast brutal schob er den Jungen weg und ging wieder weiter in Richtung Chapultepec. Rasch. Doch als er ein Stückchen gelaufen war, wandte er sich um. Nicht um zurückzugehen, sondern nur um zu gucken. Der Junge war nicht mehr zu sehen.
    Wie auf einen inneren Befehl ging er hinüber zu einer Bank und dachte an all die Male in seinem Leben, da er sich umgewandt hatte, nur um zu gucken, und an all die weit weniger Male, da er zurückgegangen war, und an die Male – er konnte sie noch zählen –, da er sich sogar bemüht hatte. Die Male? Eigentlich nur ein einziges Mal. Bei Olivia. Ach, Olivia, die schöne Olivia! Sie, die sich geweigert hatte, die Rute anzubeten … Sie hatte sie zwar gelutscht, ja, gelutscht, liebend gern gelutscht, und sich gern von ihm, wie

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