Opfer
Rand der Kugel an, die orangefarben über dem blauen Horizont glomm.
»Deshalb geht Ihnen die Sache so nahe.« Rivett reichte ihm die silberen Flasche. Gray trank einen Schluck, und es brannte im Hals.
Rivett sah ihn an und sprach weiter. »Dafür bewundere ich Sie. Sie hatten nichts, aber Sie haben sich hochgearbeitet. Haben mutig und entschlossen einen Mann aus sich gemacht, einen richtigen Detective. Glauben Sie ja nicht, dass ich Ihnen das nicht hoch anrechne.«
Gray sah seinen Chef an. Seine Pupillen hatten immer noch rote Ränder, aber sein Blick war nicht mehr so wirr wie vorher, als er vor Ginas brennendem Haus gestanden hatte. Gina hatte nur mit einer leichten Rauchvergiftung und der Nachricht, was auf ihre Tochter jetzt zukam, klarkommen müssen. Das reichte fürs Erste.
»Sie sind ein anständiger Kerl, Paul«, sagte Rivett, »und ein guter Bulle. Das schließt sich nicht immer gegenseitig aus.Deshalb will ich, dass Sie sich jetzt ein paar Wochen Urlaub nehmen – bei voller Bezahlung, versteht sich. Fahren Sie mit Ihrer Frau wo hin, wo’s schön ruhig ist. Entspannen Sie sich, genießen Sie den Tapetenwechsel und denken Sie eine Zeitlang nicht an die Arbeit. Ich will Sie nämlich nicht verlieren, Paul.« Er legte ihm eine Weile die Hand auf die Schulter. »Wirklich nicht.«
Grays Unterlippe bebte, und er schloss die Augen, um die Tränen zurückzuhalten.
Rivett steckte den Schlüssel ins Zündschloss. »So, dann bringen wir Sie mal nach Hause.«
39
WIEDERERWACHEN
März 2003
Smollet sah die Frau an, mit der er schon all die Jahre verheiratet war. Sie starrte ihn mit Augen an, die im Licht der Nachttischlampe grün aussahen, aber in der Sonne meerblau wurden.
»Bitte, Schatz«, sagte er. »Wir müssen los.«
Er warf einen Blick auf den Wecker. Wenn Jason Blackburn ihn nicht in Panik angerufen hätte, würde er sich jetzt gerade mit Len Rivett auf dem Leisure Beach treffen. Er könnte schon eine halbe Stunde von der Stadt entfernt sein. Im Kopf hörte er eine Falle zuschnappen.
Seine Frau senkte den Blick auf die Bettdecke und zupfte daran herum. Ihr säuberlich gestylter Pony fiel nach vorne, und einen Augenblick lang war die alte Narbe an ihrer Schläfe zu sehen.
»Ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht will«, flüsterte sie.
Smollet kniete sich neben ihr hin und nahm ihre unruhige Hand.
»Nur ein paar Tage«, erklärte er. »Ich hab dein Lieblingshotel gebucht. Deine Sachen sind auch schon gepackt. Der Wagen steht unten bereit. Du musst dich nur anziehen. Bitte, Schatz. Für mich.«
Sie vergrub ihre Fingernägel in seiner Hand und schaute ihn mit seltsamem Blick an. »Ich versteh einfach nicht, warum du mich loswerden willst, Dale.«
Sie biss sich mit perfekt geraden, weißen Schneidezähnen auf die Unterlippe.
»Will ich doch gar nicht, Schatz«, erwiderte er. »Ich will doch nur, dass du sicher bist, wie immer.«
Er küsste ihre Fingerknöchel, schloss die Augen und fragte sich, ob er Beruhigungsmittel einsetzen sollte, um das Versprechen einzulösen, das er ihrem Großvater gegeben hatte, als er um ihre Hand angehalten hatte. Dieses Versprechen wollte er bis zum Ende seiner Tage halten. Dabei war der Alte dagegen gewesen, und nur der eine Mann, dessen Rat er überhaupt jemals annahm, hatte ihn umstimmen können.
»Onkel Len war heute da«, sagte sie. »Hat das was damit zu tun?«
Smollet öffnete die Augen. »Was? Wann?«
»Heute Morgen«, erwiderte sie. »Er ist auf einen Tee vorbeigekommen.« Sie biss sich wieder auf die Unterlippe. »Onkel Len hat mich nie gemocht. Er steckt dahinter, oder? Er will mich loswerden.« Tränen traten ihr in die Augen.
*
»Was ist da drin?«, fragte Sandra.
»Die Protokolle von den Verhören des Direktors der Ernemouth High und von Corrine Woodrows Klassenlehrer.« Gray öffnete das Buch auf einer abgegriffenen Seite. »Noch einer, der wegen dieser Sache weggeekelt wurde. Interessanterweise ging es nicht nur um Corrine. Beide waren der Meinung, dass die schwierigste Schülerin in dem Jahrgang weder Corrine noch eine von den Gruftis gewesen war, sondern ein anderes Mädchen, das der Direktor gerade hatte von der Schule werfen müssen.«
»Wer war das?«, flüsterte Sandra.
»Eric Hoyles Enkelin«, erwiderte Gray.
Sandra hielt sich die Hand an den Hals. »Edna«, sagte sie.
Gray nickte und blätterte ein paar Seiten weiter.
»Hier ist noch eine Zeugenbefragung von Lizzy Hurrell, der Filialleiterin von Oliver John’s, die Corrine als
Weitere Kostenlose Bücher