Opfer
Angst – »ich mag’s nicht. Es erinnert mich an irgendwas … was Schlimmes …«
*
Gray legte auf. »Wir treffen uns jetzt gleich«, erklärte er Sandra. »Bei DCI Smollet zu Hause.«
»Meinst du wirklich …«, setzte Sandra an, aber ihr Mann unterbrach sie mit einem Kuss und drückte ihr das Logbuch in die Hand.
»Pass gut darauf auf, Schatz«, sagte er. »Ich muss los.«
*
Rivett ging ans Telefon. Die Stimme am anderen Ende hatte er nicht erwartet, und einen Augenblick lang verstand er kaum, was der Anrufer sagte. Irgendetwas darüber, dass er die Nummer von Kidd hatte. Dass ebendieser Kidd wegen Einbruchs auf dem Bauernhof der Alcotts festgenommen worden sei und die alte Schachtel ihn mit der Schrotflinte in Schach gehalten habe, während ihr Mann die Polizei in Norwich angerufen hat. Es war Blackburn, der da vor sich hinfaselte, und als Rivett das verstand, dachte er, es handle sich um einen seiner dummen Scherze, für die er sich so begeisterte.
»Und das ist noch nicht alles«, setzte Blackburn fort, »DC Snell wollte das beim alten Pearson erledigen gehen, wie Sie gesagt hatten, und jetzt liegt er mit zerfetztem Arsch in der Notaufnahme. Sie haben nie gesagt, dass er Hunde hat.«
»Hunde?«, wiederholte Rivett, und ihm war, als würde er es bellen hören. Er stand auf und legte die Pistole wieder auf den Schreibtisch. »Du verarschst mich doch, oder?«, sagte er und lockerte sich den Kragen. Sein Gesicht war knallrot, und er starrte durch Francesca hindurch. »Das ist doch wohl ’n Witz.«
»Das wäre mir auch lieber«, winselte Blackburn. »Aber der DCC aus Norwich ist hier vor gerade zehn Minuten losgefahren und müsste auf dem Weg zu Ihnen sein.«
»Was?« Jetzt wurde Rivett kreidebleich. »Und wo zum Teufel ist Smollet?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Blackburn. »Der ist hier vor ’ner halben Stunde abgehauen, hat mich angebrüllt, dass ich’s Ihnen nicht sagen darf und hat mich mit der ganzen Scheiße sitzenlassen …«
Rivett ließ den Telefonhörer fallen. Die Geräusche in seinen Ohren wurden lauter, eine Hundemeute winselte und jaulte und lechzte nach Blut. Der Schmerz schoss ihm durchs Bein und in die Brust, aus den Armen ins Herz, so stark, dass er hoch- und zurückgeworfen wurde und Erics alter Stuhl unter ihm wegkippte. Dann fiel er immer tiefer auf das dunkle Wasser zu, während ihm Bilder durch den Kopf rasten.
Erics Enkelin, die Haare auf dem Kopfkissen ausgebreitet, erzählte ihm, dass sie den Mord an dem Jungen gesehen hatte, der am Morgen vermisst gemeldet worden war. Sie artikulierte das Gesagte mit der Präzision einer Schauspielerin, die Geschichte war so vollständig, dass kein Unschuldiger sie sich jemals hätte ausdenken können. Eric hielt ihr die Hand und sagte ihr, dass sie tapfer sei, und sie schaute ihn erwartungsvoll an. Rivett sah die Hand des Mädchens in der von Eric an, ihre abgebrochenen Fingernägel, ihre abgeschürften Knöchel.
Edna stand in der Küche und knetete Teig.
Paul Gray nickte, als er sich das Bild des Jungen ansah. Paul Gray machte sich auf den Weg. Später ging Alf Brown an die Arbeit, bewegte sich langsam durch die stinkende Luft des Bunkers, stoisch und kühl, ein guter Soldat, der Befehle nie infrage stellte.
Corrine Woodrow weinte in der Zelle. Corrine Woodrow, die an den Fingerknöcheln keine Schnitte und Abschürfungen hatte, deren schwarz lackierte Fingernägel makellos waren. Ihr Gesicht voll mit Darren Moorcocks getrocknetem Blut.
Das Feuer in der Nacht in dem Reihenhaus in South Town, die Rufe nach Rache und die Rauchwolken. Der Tumult vor den Toren der Ernemouth High, ein großer, hagerer Mann, der unter einer Decke in einen Polizeiwagen gelotst wurde, während eine Masse von Müttern nach seinem Blut schrie.
Das Gewicht von Ednas Sarg auf seiner Schulter, das düstere Orgelstück, als sie den Gang entlangschritten.
Eric, der im Krankenhausbett lag, angeschlossen an all die Maschinen. Rivett lehnte sich vor und erwies ihm die letzte Ehre, segnete ihn mit den Worten: »Eine Ehe zwischen unseren Familien, Eric, das hatten wir gesagt. Jetzt ist alles unter Dach und Fach.« Dann fächerte er seinem besten Freund mit dessen Letztem Willen und Testament Luft zu. »Du hast deinen Teil getan.« Und seine Finger drückten den Sauerstoffschlauch zu. Er sah noch in Erics Augen, dass er es merkte, kurz bevor sie milchig wurden.
Und Gina, Gina, die in Norwich Richtung Fluss lief, eine enge Gasse entlang, wo an einer Mauer in weißer
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