Opfer
hatte ihr für den Notfall noch etwas Stärkeres verschrieben – falls sie jemals gewalttätig wurde. Im Laufe der Jahre war immer mal wieder ihr Temperament mit ihr durchgegangen, aber er hatte nie das Gefühl gehabt, auf diese Reserve zurückgreifen zu müssen.
Als er die Packung Rohypnol in die Hand nahm, merkte er, dass er Neuland betrat. Sean Ward hatte korrekt beobachtet, dass mit seinem Anruf bei Rivett alles wieder so geworden war wie vor dessen Pensionierung: Rivett gab die Befehle, Smollet sollte sich dem Detektiv gegenüber so hilfsbereit wie möglich zeigen, während Onkel Len alles auf seine Art regelte. Er hatte auch vorgeschlagen, Samantha eine Weile aus der Stadt zu schaffen, damit sie nichts von Wards Ermittlung mitbekam, was womöglich unliebsame Erinnerungen an eine für alle unangenehme Zeit wecken könnte.
Wie immer war Smollet Rivetts Anweisungen gefolgt und hatte alles vorbereitet, damit er Samantha heute nach der Arbeit an einen sicheren Ort bringen konnte, wo man sich gut um sie kümmern würde. Doch an jeder Ecke lauerten Zweifel. Das ganze Theater am alten Bunker hatte bei ihm Erinnerungen geweckt, die er eigentlich schon vor Jahren begraben hatte. Erinnerungen an seine Schulzeit mit Darren Moorcock und Corrine Woodrow und die kurze Phase, als Samantha selbst einen auf Grufti gemacht hatte.
Bis zu Blackburns Anruf hatte Smollet sich eingeredet, dass der zwanzig Jahre alte Fall ihm keine Probleme bereiten würde,dass sein Onkel wie immer alles im Griff hatte. Vielleicht hatte er einfach nicht glauben wollen, dass es auch anders kommen konnte, dachte er, als er die Aufschrift auf der Flasche las.
Er hatte Rivett angerufen und gefragt, ob er wisse, was DS Kidd bei der Farm der Alcotts gemacht hatte. Rivett hatte jedes Wissen abgestritten, und zum ersten Mal hatte Smollet gemerkt, dass er log. Er wusste, wie lange Kidd und Rivett sich schon kannten, und auch, dass Kidd an der Woodrow-Ermittlung mitgearbeitet hatte. Die letzten beiden Nächte war Smollet lange aufgeblieben und hatte die alten Fallakten und Wards Notizen studiert und zwischen den Zeilen nach Dingen gesucht, die damals im Verborgenen geblieben waren und die Rivett ihm nie offenbart hatte.
Aber bevor er das hatte ansprechen können, hatte Rivett ihn gebeten, sich vor der Abfahrt mit ihm oben in Erics Büro zu treffen, wie sie es immer noch nannten.
»Warum?« Smollet war verwirrt. »Ich dachte, wir hätten das gestern Abend alles geregelt, damit ich heute schnell los kann. War doch deine Idee …«
»Dale, du weißt doch, dass ich immer in deinem Interesse handle.« Rivett sprach in dem jovialen Ton, den er immer einsetzte, kurz bevor er einen Verdächtigen verhörte. »Es hat sich eben etwas ergeben, was dir Probleme bereiten könnte, wenn wir es nicht sofort regeln. Eine Journalistin schnüffelt hier herum. Womöglich ist sie auf etwas gestoßen, was dir schaden könnte. Mehr kann ich am Telefon nicht sagen. Warum, muss ich dir sicher nicht erklären. Du willst doch nicht, dass du und Samantha Ärger kriegen, oder?«
»Ich und Samantha?« Smollet verstand noch nicht so recht, was er da hörte.
»Genau«, erwiderte Rivett, »deine liebe Frau. Ich mach’ mir eben Sorgen um sie, und das solltest du auch. Wir sehen uns in einer halben Stunde, Dale. Ruf mich an, wenn du auf dem Weg bist.«
Dann hatte er aufgelegt. Smollet hatte die Wache wie betäubt verlassen und Blackburn aufgetragen, mit der Scheiße fertigzuwerden, die sein bester Kumpel gebaut hatte und wegen der der DCC aus Norwich gekommen war. Er raste währenddessen mit Vollgas nach Hause und konnte die Lunte der Angst, die Rivetts letzter Kommentar in seinem Kopf angezündet hatte, nicht löschen.
In den letzten sechsunddreißig Jahren hatte Smollet zwar nie entschlüsseln können, was im Kopf seines Onkels vor sich ging, aber er konnte mittlerweile die Anzeichen erkennen, wenn er jemandem eine Falle stellte. Als er nach Hause kam, war Samantha so abwesend wie seit Monaten nicht mehr. Und jetzt erzählte sie ihm, dass Rivett am Morgen schon bei ihr gewesen war …
Als Smollet zurück ins Schlafzimmer kam, saß seine Frau immer noch in Seidennachthemd und Bademantel da. Aber jetzt hielt sie etwas in der Hand, was er noch nie gesehen hatte. Ein dickes Buch mit schwarzem Ledereinband.
»Guck mal, was Onkel Len mir mitgebracht hat«, sagte sie. »Er hat gesagt, er gibt es mir zurück, als ob ich es ihm ausgeliehen hätte. Aber Dale« – in ihren Augen stand die
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