Opfer
schob ihn wieder ins Gebäude.
»Haben Sie das verstanden, Paul?« Rivett lehnte sich heran, so dass ihn sonst niemand hörte. »Ich hab ihr volles Geständnis auf Band. Und Sie gehen jetzt wieder da runter und finden heraus, wer von den kleinen Scheißern sich noch für ’nen Zauberer hält.«
Wieder stieg die schwarze Wolke in Grays Augenwinkel auf. »Was haben Sie vor?«, fragte er und rieb sich die Stirn, damit die Erscheinung verschwand.
»Die Biker und die verdammten Sonderlinge«, sagte Rivett. »Ich will dieses Pack nicht in meiner Stadt.«
*
Maureen Carver blieb am Treppenabsatz stehen und rang mit den Tränen. Sie konnte einfach nicht fassen, was sie da in den Abendnachrichten gesehen hatte, konnte nicht verstehen, dass der freundliche, höfliche junge Mann, den sie erst vor zwei Tagen gesehen hatte, nie wieder durch die Haustür kommen würde. Der Schock wurde noch dadurch verdoppelt, dass die Nachrichtensprecherin gesagt hatte, die Verdächtige sei vermutlich eine Schulfreundin.
Ein Mädchen.
Maureen ließ die Ereignisse der letzten Zeit in ihrem Kopf Revue passieren. Wie Debbie Corrine mitgebracht hatte, und welche Angst sie gehabt hatte, dass diese auf zu großer Abhängigkeit beruhende Freundschaft für ihre Tochter nichts Gutes verhieß. Der seltsame Nachmittag, als Corrine bei ihnen aufkreuzte, nachdem sie eine Woche verschwunden gewesen war, und welche Sorgen sich Debbie gemacht hatte. Debbies Streit mit Alex von nebenan und ihre Hasstiraden auf die Neue in der Schule, diese Samantha Lamb, und was sie ihnen allen angetan habe.
Maureen unterdrückte ein Schluchzen, legte den Kopf in die Hände und sammelte die letzte Kraft, die sie noch hatte.
Sie öffnete vorsichtig Debbies Tür. Ihre Tochter hatte heute endlich nicht mehr brechen müssen, war aber vom Schlafmangel so schwach, dass sie sie heute noch nicht wieder zur Schule geschickt hatte. Sie hatte ja auch schon so viel für ihre O-Levels und die Zulassung zum Art College gelernt …
Debbie lag im Bett, die Haare auf dem Kissen ausgebreitet und einen Finger am Mund, als wäre sie mit einer Frage eingeschlafen. Auf dem Bett verteilt lagen die aufgeschlagenen Musikzeitschriften, die Darren am Samstag mitgebracht hatte.Maureen schloss die Augen und bat Gott um die Kraft, die sie brauchte, um ihre Tochter aus dieser seligen Idylle heraus in eine Welt zu befördern, die nie wieder dieselbe sein würde.
»Mum?« Debbie schlug die Augen auf und lächelte, bevor sie das Gesicht ihrer Mutter sah. »Mum, was ist denn los?«
*
Maureen wusste nicht, wie viele Stunden vergangen waren, nur dass es jetzt dunkel war und Debbie sich ausgeweint hatte und in ihren Armen eingeschlafen war.
Maureen hörte auf der anderen Straßenseite Schritte. Dann ein metallisches Klimpern, zerbrechendes Glas und wieder Schritte, von jemandem, der weglief. Dann fauchte es, und das Zimmer wurde hell erleuchtet, und sie hörte einen herzzerreißenden Schrei.
*
Als Gray ankam, hatten die Flammen schon das Erdgeschoss zerstört und züngelten an der Fassade hinauf. Hunderte Leute waren aus den Häusern gekommen und sahen sich das Spektakel an. Die Gesichter der Männer mit Gehstöcken und Frauen mit Babys auf dem Arm wirkten im flackernden Licht grausam befriedigt.
»Verbrennt sie!«, rief jemand.
Oben, wo jetzt Feuerwehrleute auf Leitern standen und Wasser ins Haus hineinspritzten, quoll Rauch heraus, während Asche und Funken durch die Luft stoben und den Himmel rot, orange und lila erleuchteten. Einen Augenblick wurde die Rauchsäule für Gray eins mit dem Fliegenschwarm vom Morgen.
»Nutte!«, schrie neben ihm eine Frau, dass Gray zusammenzuckte und den Blick einer dunklen Gestalt vor den Flammen zuwandte. Rivett kam den Gartenweg entlang auf ihn zu und trug Gina in den Armen, die in die Faust hustete.
Rivett starrte in die Menge und brüllte: »Haut ab hier! Los, weg mit euch!« Das Wasser zischte, als es in die Flammen fiel. Ascheflocken segelten um ihn herum durch die Luft. Rivetts Gesicht war rot und seine Augen so dunkel und unergründlich wie die Nordsee.
Gray starrte seinen Chef an und konnte nicht mehr klar denken.
*
Rivett und Gray saßen in Grays Wagen, Rivett am Steuer, und sie sahen sich vor dem Iron Duke den Sonnenaufgang an. Nach vierundzwanzig Stunden, die keiner von beiden noch einmal durchleben wollte, tranken sie Whisky aus dem Flachmann des DCI.
»Sie haben doch mal gesagt, Sie waren Heimkind, oder, Paul?«, sagte Rivett.
Gray starrte den
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