Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Opfer

Opfer

Titel: Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathi Unsworth
Vom Netzwerk:
mit Baggyjeans und Kapuzenpullis, die geräuschvoll auf die Straße spuckten. Mädchen mit kurzen Röcken undnackten Beinen, die sich laut unterhielten und kicherten. Die meisten Frauen, junge und alte, trugen wie Julie Boone bunte Frisuren und Metall im Gesicht. Nicht unbedingt anders als auf jeder beliebigen Einkaufsstraße in London, bis auf den Dialekt natürlich. Und bis auf die Tatsache, dass trotz des kühlen Abends niemand eine Jacke trug.
    Aus der Sprechanlage kam eine Frauenstimme: »Ernemouth Mercury.«
    »Sean Ward. Ich würde gerne Francesca Ryman sprechen.«
    »Haben Sie einen Termin?« Die Stimme klang unfreundlich.
    »Ja, sie erwartet mich.«
    »Oh.« Eine Pause, ein kurzes Rauschen. »Alles klar, Sir, kommen Sie gleich rauf, erste Tür links.« Der Türöffner summte.
    Sean stieg die Treppe hinauf und ging zur Rezeption, wo die Frau zur Stimme an einem modernen schwarzen Schreibtisch saß, unter einem Plexiglasdisplay, auf dem der Titelkopf der Zeitung zu lesen war. Hinter ihr befand sich ein kleines offenes Büro.
    Die Frau mittleren Alters mit cremefarbener Bluse, blauer Strickjacke, kastanienbraunem, welligem Pagenkopf und graugrünen Augen musterte ihn misstrauisch. Sean lächelte freundlich, aber sie blieb kühl. »Sie müssen sich hier eintragen.« Sie schob ihm ein Buch und einen Stift zu. »Einen Moment bitte.« Sie nahm den Telefonhörer ab und tippte drei Ziffern.
    »Ein Mr Ward möchte zu Ihnen, Fran, er sagt, Sie erwarten ihn, ich hab hier bloß nichts stehen. Ach, okay. Alles klar. Ich schick ihn durch.«
    Sie legte auf und zeigte in Richtung Büro. »Gehen Sie gleich durch, sie ist ganz hinten«, erklärte sie.
    Der Ernemouth Mercury war ein kleines Unternehmen. Links befand sich die Anzeigenabteilung: Zwei junge Männer mit gegelten Haaren, die Jacken über die Drehstühle gehängt, saßen an ihren Schreibtischen mit Sicht auf ein Whiteboard und telefonierten; ein älterer, graublonder Mann mit dem aufgedunsenen roten Gesicht eines langjährigen Trinkers erzählte seinem Gesprächspartner auf der anderen Seite gerade einen Witz und richtete sich durch die marineblaue Hose die Eier.
    Rechts saßen vier Frauen an einander zugewandten Schreibtischen und tippten gehetzt auf ihren Tastaturen herum, die Bildschirme vor ihnen klebten voller Notizzettel. Zwei waren ungefähr so alt wie die beiden Jungs aus der Anzeigenabteilung, trugen adrette schwarze Kostüme und das Haar hochgesteckt. Die dritte hatte gewelltes, braunes Haar, trug eine Brille mit fingerdicken Gläsern und war etwas informeller angezogen: grauer Pullover, Jeans, Turnschuhe. Die vierte war eine ältere Dame mit knallorange gefärbten Haaren, erbsengrüner Bluse und dazu passenden Augen, die todernst den Bildschirm anstarrten.
    Francesca Rymans Schreibtisch stand vor einer Wand voller Titelseiten. Sommer-Sonderausgabe , las Sean, und Erinnerungen der Veteranen . Francesca war schon aufgestanden und kam lächelnd auf ihn zu – ein Kontrast zu seinem bisherigen Empfang.
    Überhaupt ähnelte die Redakteurin niemand anderem im Büro. Sie war etwa Anfang dreißig, groß, schmal und hager mit schwarzen Haaren und einer Frisur, die die jüngeren Frauen offensichtlich nachahmten, bloß dass sie bei ihr verwegener aussah, als wollte sie sich gegen die Büroordnung auflehnen. Sie trug einen grauen, maßgeschneiderten Hosenanzug und ein türkisfarbenes Hemd. Ihre großen, durchdringend blickenden Augen leuchteten in derselben Farbe über hohen Wangenknochen und dunkelroten Lippen.
    »Hallo«, sagte sie, und ihre weißen Zähne funkelten. Auch der Lokaldialekt fehlte bei ihr.
    »Ms Ryman.« Sean gab ihr die Hand. Sie war glatt und kühl, am Gelenk sah er ein Silberarmband. Er merkte, wie die Stimmen und Tastaturen im Büro leiser wurden und sich alle nach ihm umdrehten. »Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.«
    »Gerne«, erwiderte sie. »Sie haben sicher Hunger. Hier in der Nähe gibt’s einen Laden, wo man sich ungestört unterhalten kann.« Sie ließ den Blick demonstrativ durchs Büro streifen. »Und das Essen ist auch nicht schlecht.«
    »Hört sich gut an«, erwiderte Sean. Francesca Ryman verhielt sich genau so, wie er es erwartet hatte, seit er sie von London aus angerufen hatte. Sie war eine gelangweilte Provinzredakteurin, die etwas Großes schnupperte, in das sie nicht mal ihre Kollegen einweihen wollte, bevor sie es nicht in der Tasche hatte. Sean vertraute eigentlich nur ungern jemandem, der so sein Geld verdiente.

Weitere Kostenlose Bücher