Opfer
pulsierender Musik.
Alex fläzte sich mit dem Rücken an der Wand auf seinem Einzelbett. Einen Skizzenblock auf dem Knie, schaute er zwischen Debbies Arbeit und der Vorlage hin und her. Ein neues Poster von einem der Konzerte, zu denen er den Sommer über quer durchs Land gereist war. Kein Zentimeter seines Zimmers war noch frei. Fotos aus Zeitschriften zeigten The Damned im Electric Ballroom, UK Decay im Lyceum und auf seinem ältesten, wertvollsten Schatz spielten die Sex Pistols im West Runton Pavilion. Die schwarzen Sonnenbrillen der Ramones, die Tollen und Locken der Cramps und The Clash in einem Hinterhof. Dazwischen hingen auch Alex’ eigene Zeichnungen von Freunden, die mit den Gedanken woanders waren. Alex wollte das Charakteristische an einem Menschen mit dem Bleistift einfangen. Zum Beispiel Debbies hochkonzentrierten Blick in diesem Moment.
»Wie war’s heute in der Schule?«, fragte er. »Warst du im Kunstraum?«
Debbie hob die Kreide vom Stoff. »Ja, mittags«, erwiderte sie.
Dorthin war sie geflohen, als Corrine bei der Neuen geblieben war. Darren und Julian waren dort gewesen, und sie hatte sich mit ihnen die Zeit vertrieben, bis die gefürchtete Klingel sie zu ihrer Nachmittagsaufgabe rief: Samantha Lamb den Weg zu ihren Klassenräumen zeigen.
»Aber«, sie legte die Kreide ab, setzte sich hin und nahm ihre Teetasse in die Hand, »wir haben jetzt ’ne Neue.« Sie trank langsam und betrachtete die ersten Linien ihres jüngsten Werks. »Und ich musste ihr alles zeigen, also hab ich nicht so viel geschafft wie sonst.«
Alex zog die Augenbrauen hoch. »Kannst du sie nicht ab?«
Debbie warf ihm einen schrägen Blick zu. »Nee. Corrine aber.«
Sie stellte die Tasse ab, widmete sich wieder ihrer Zeichnung und versuchte, ihren Streit auf dem Weg nach Hause zu verdrängen. Corrine hatte ihr weismachen wollen, dass sie doch nur nett zu der Neuen habe sein wollen, die eigentlich echt okay sei. Dann hatte sie Debbie die kleinen Bleistifte gezeigt, die Sam ihr geschenkt hatte. Weiße mit rosa Herzchen. Widerlich kindische Teile.
»Wieso denn?« Alex sah, wie Debbie die Röte ins Gesicht stieg.
»Tja«, sagte Debbie, ohne aufzusehen, »der alte Pearson hat die beiden zusammengesetzt, und sie hat sich sofort total bei Corrine eingeschleimt. Ihr erzählt, dass der Leisure Beach ihrem Opa gehört und sie sie jederzeit mitnehmen kann, überall freier Eintritt.«
»Okay«, erwiderte Alex, »vielleicht ist das auch gar nicht so schlimm, Debs. Klar, du hast dich wirklich für Reenie stark gemacht, aber eigentlich habt ihr gar nicht viel gemeinsam, oder?«
»Nein«, gab Debbie zu und versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten.
»Ich mein«, setzte Alex fort, »ihr steht einfach nicht auf dieselben Sachen. Hast doch selber gesagt, dass du sie nur mit ins Swing’s schleifen konntest, weil sie dachte, der eine da wollte was von ihr – Julian, oder?«
Debbie nickte und schluckte. »Stimmt.«
»Der ist in Ordnung«, urteilte Alex und setzte dann leiser fort, »und dieser Darren auch. Den magst du doch, oder?«
Debbie nickte. Aber sie hatte dabei nicht Darrens Gesicht vor Augen, sondern das von Corrine, die in der Gasse, ihrer Abkürzung auf dem Weg nach Hause, stand und sie angiftete: »Jetzt hast du doch diesen Darren, da brauchst du mich doch gar nicht mehr!« Dann hatte sie Debbie mit ihrem harten Finger aufs Brustbein gestoßen. »Ha! Streitest’s ja nicht mal ab! Was regst du dich da überhaupt so über Sam auf?«
Alex legte seinen Block zur Seite, rutschte vom Bett und setzte sich neben sie. Er war der jüngste von drei Brüdern, mit zehn Jahren Abstand zum nächsten hatte er nie eine enge Beziehung zu den anderen beiden gehabt, die ausgezogen waren, als er noch klein war. Debbie war schon immer so etwas wie seine Schwester gewesen.
»Ist richtig gut geworden«, sagte er, legte den Arm um sie und sah ihre Zeichnung an.
»Findste?«, Debbie schniefte und war dankbar für den Themenwechsel.
»Klar. Ich hol eben die Farbe, dann helf ich dir damit.«
7
SILBER
März 2003
Draußen auf der Straße lachte Francesca. »Oh nein«, sagte sie und legte Sean kurz die Hand auf den Arm. »Tut mir leid. So heißen sie einen in Ernemouth willkommen. War bei mir damals genauso. Besonders Pat. Sie ist schon am längsten hier, macht den Job, seit sie sechzehn wurde. Die zeigt gerne mal allen, wer hier das Sagen hat.«
»Tja, Sie haben bestimmt einen besseren Eindruck gemacht als ich«, erwiderte Sean.
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