Opfer
Wolke hing, die großes Unheil über ihre Welt hereinbrechen lassen würde.
Über ihre Welt und all ihre Bewohner.
*
Drei Stunden später saßen Corrine und Debbie mit der Neuen um ihren Schreibtisch und teilten mit ihr die Pausenbrote, wie sie es auch zu zweit immer taten.
»Wo wohnst du eigentlich, Sam?«, fragte Corrine.
»Marine Parade«, antwortete sie. »Bei den North Denes.«
Debbie schluckte erleichtert. Corrine und sie wohnten am anderen Ende der Stadt. Wenigstens hatten sie nicht denselben Schulweg wie die Neue.
»Da wohnen meine Großeltern«, erklärte Samantha. »Aber ich zieh bald wieder um.« Sie senkte den Blick auf die Reste ihres Sandwichs in der Tupperdose.
»Meine Mum hat ein Haus in der Tollgate Street gekauft. Da muss ich in zwei Wochen hin. Hab ich gar keinen Bock drauf.« Samantha seufzte und schob das letzte Viertel Sandwich Corrine zu, die selbst bloß ein Päckchen Cheese-and-Onion-Chips beigesteuert hatte.
»Echt?«, fragte Corrine, der diese großzügige Geste selbst etwas zu weit ging.
Debbie schnürte sich wieder der Hals zu, als das, was Samantha gesagt hatte, zu ihr durchgedrungen war.
Samantha nickte. »Keinen Hunger.« Dann sah sie Debbie an.
»Aber auf der Tollgate Street ist es total schön«, erklärte Debbie, der die Röte ins Gesicht stieg, als sie dachte: Und es ist gar nicht weit zum Swing’s . Im Moment hätte sie am liebsten ihre ganze Zeit dort oder im Kunstraum verbracht. Sie hatten der Neuen absichtlich nicht den Ort gezeigt, an dem sie sonst Mittag aßen. Aber wie lange würde Corrine schon dichthalten können?
»Das mein’ ich auch gar nicht«, erwiderte Samantha und schob sich eine Strähne aus den Augen, »ich meinte meine Mum. Ich will nicht wieder bei ihr wohnen, sondern lieber bei Oma und Opa bleiben.«
»Ist wohl ziemlich fies, deine Mum?«, bemerkte Corrine mit vollem Mund. »Meine ist richtig scheiße!« Sie verzog das Gesicht und kaute weiter.
Zum ersten Mal lachte Samantha richtig. »Meine ist ne dumme Sau«, stimmte sie zu und hielt kurz inne. »Und ne Nutte«, fügte sie hinzu und lächelte Corrine an.
Debbie wickelte den Rest ihres Sandwichs wieder in die Alufolie ein.
»Meine auch«, stellte Corrine fest. »Hat mir das ganze Geld geklaut, das ich den Sommer über verdient hab, und hatte den Hals immer noch nicht voll, die alte Schlampe. Na ja, dann hab ich’s ihr aber gezeigt, oder, Debs?« Sie spielte mit einer Locke ihrer gesträhnten Dauerwelle, die das blaue Auge absolut wert war, das sie mit einer anständigen Portion Madonna-Make-up kaschiert hatte.
Debbie warf ihrer Freundin einen strafenden Blick zu, damit sie die Klappe hielt, aber Corrine war richtig in Fahrt. »Was hat deine Mum denn gemacht?«
»Sich ’nen neuen Freund angelacht.« Samantha bot Corrine wieder ihre Brotdose an. Darin lag nur noch der Mintkeks, den sie eigentlich selbst hatte behalten wollen.
»Echt?« Corrine hatte angebissen, sie erinnerte sich an die verschrobenen Freunde ihrer Mutter, mit denen sie hatte klarkommen müssen. »Ist der ’n Junkie? Oder ’n Biker?«
»Maurer«, erwiderte Samantha düster, »gerade mal vier Jahre älter als wir.«
»Hast recht«, Corrine nickte, »schon ’ne ziemliche Schlampe, deine Mum.«
Die beiden prusteten los.
Debbie bekam Magenschmerzen. Es war schlimmer, als sie gedacht hatte.
»So«, sagte sie und ließ ihre Dose zuschnappen. »Wer kommt mit nach draußen? Bei dem Wetter will ich nicht die ganze Mittagspause drinnen sitzen.«
»Okay.« Samantha zuckte mit den Schultern, drehte sich langsam zu Debbie um und musterte sie. »Wir kommen dann gleich nach.«
Corrine war schon fast vom Tisch gerutscht und fing sich in letzter Sekunde.
»Hab eigentlich keinen Bock, rauszugehen«, erklärte Samantha ihr. »Du?« Sie lächelte Corrine an. Ihre Augen sagten etwas, was Corrine zu verstehen glaubte.
»Äh, nee«, Corrine setzte sich wieder richtig hin. »Wir können ruhig hier bleiben.« Sie schielte kurz nach hinten, wo Reeder, Rowlands und Smollet wie immer zusammensaßen, große Töne spuckten und Papierkugeln durch den Raum feuerten. Smollet schaute schnell weg, und Corrine sah, wie er rot wurde.
Dann wandte sie sich wieder Samantha zu und zwinkerte verschwörerisch. »Ich beschütz dich schon.«
*
Debbie starrte das Poster in Alex’ Zimmer an. Sie hatte ihre Donkeyjacke auf dem Boden vor sich ausgebreitet und zeichnete darauf mit Schneiderkreide einen Umriss. Das Zimmer war erfüllt von dunkel
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