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Opfer

Opfer

Titel: Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathi Unsworth
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verzogen.
    Dale hielt den Satz nichtmanipulierter Pfeile in der rechten Hand, die gleich anfing zu schwitzen.
    »Ja, bitte, junge Dame?«, krächzte Onkel Ted und fuchtelte mit einem Stoffpapagei herum. »Schon was gefunden?«
    Dale hätte ihn umbringen können. Das sichtbare Auge der Prinzessin wurde schmaler, ihre Oberlippe hob sich ein wenig und zeigte einen schiefen Zahn, der sie irgendwie noch schärfer wirken und Dale nur noch verlegener vom einen Bein aufs andere treten ließ.
    »Nee«, erwiderte sie. »Ist doch alles Kinderkram, oder?« Sie warf den Kopf zur Seite, versteckte sich wieder unter ihrem Pony und ging weiter, ohne Dale auch nur eines Blickes zu würdigen.
    »Schwitzt du?«, fragte Onkel Ted.
    *
    Am anderen Ende von Ernemouth, Richtung Westen, lag ein Stadtteil, den eine andere Form von Kommerz hervorgebracht hatte: die Docks an der Erne. Die große Zeit des Heringsfangs war zwar schon lange vorbei, seit gut dreißig Jahren war alles leergefischt, aber dennoch lag der Hafen voller Boote. Containerschiffe, Tanker und Fähren hatten die alten Schmacken und Jollen ersetzt.
    Hier traf man nicht so oft Touristen an, obwohl am South Quay die Überbleibsel der Stadtmauer lagen, die Henry III. hatte bauen lassen, außerdem einige elegante Händlerhäuser aus dem achtzehnten Jahrhundert und die Ruinen eines Franziskanerklosters. Am verschnörkelten viktorianischen Rathaus endete der South Quay und wurde zum Hall Quay.
    Auf dem Weg zur Bushaltestelle, die sich genau dort befand,konnte Debbie ihr Glück kaum fassen. Sie hatte sich auch nicht daran gestört, dass Corrine sich ihren Crimper und ihr halbes Make-up ausgeliehen hatte, denn wichtig war nur, dass sie jetzt hier waren.
    Sie mussten auch nicht lange auf die Jungs warten, die saßen nämlich schon da, als sie um die Ecke kamen. Die beiden ließen auf der Bank die langen, dünnen Beine baumeln und teilten sich eine Portion Pommes.
    »Boah, gebt mir mal was ab!« Corrine stürzte sich aufs Essen, bevor sie sich überhaupt begrüßt hatten.
    »Alles klar?«, fragte Darren belustigt. Er war wohl zwischendurch noch mal nach Hause gegangen und hatte sich die Haare neu gemacht. Debbie hatte ihre auch ein bisschen hochgekämmt und war mit dem Resultat ganz zufrieden – damit war sie bestimmt gute fünf Zentimeter größer.
    Debbie nickte, und ihr fiel auf, wie blau seine Augen in der letzten Sonnenstunde des Tages schimmerten. Sie schauten einander einen Moment an.
    Dann durchbrach Corrines Quietschen die Stille. »Boah, geil!« Sie hielt eine Kassette in den salz-und-essig-verschmierten Händen. »Er hat mir echt das Tape mitgebracht, Debs! Jetzt hab ich Madonna, ich kann’s nicht fassen!«
    Julian keuchte, als sie ihm herzlich auf den Rücken schlug.
    »So, wo geh’n wir denn jetzt hin?«, fragte sie.
    »Wirst du gleich sehen«, erwiderte Darren und nickte nach rechts.
    Er ging neben Debbie vor dem Ship Hotel über die Straße. Dann bogen sie in den schmalen Durchgang neben der Midland Bank ein. Er wusste, dass Julian sich nicht ernsthaft für Corrine interessierte, aber auch, dass er ein guter Kumpel war und seinen Part spielen würde.
    »Was, geh’n wir jetzt wieder in die Stadt?«, kam von hinten Corrines verwirrte Stimme.
    »Nein«, antwortete Darren und lächelte Debbie an, als sie an dem alten, weiß gestrichenen Pub ankamen, über dessenTür ein Schild in die Gasse ragte – ein Mann mit Dreispitz und Samtumhang, der von einem Galgen baumelt; um ihn herum züngeln Flammen und davor zeichnen sich die Silhouetten von Leuten mit erhobenen Mistgabeln ab. Darunter in mittelalterlichen Lettern der Name: Captain Swing’s .
    Darren drückte die Tür auf, und die anderen folgten ihm hinein.

5
    EASTWORLD
    März 2003
    Als er endlich in der Parkbucht vor dem Ship Hotel gehalten hatte, spürte Sean seine Beine kaum noch. Weder seine Körperwärme noch die Heizung im Wagen hatten gereicht – die Metallplatten und Bolzen, die ihn zusammenhielten, reagierten so unmittelbar auf die Elemente, dass er an nasskalten Abenden wie diesem wusste, was es hieß, bis auf die Knochen durchgefroren zu sein.
    Steif stieg er aus dem Auto, lehnte sich eine Weile dagegen und sah sich um. Der Geruch des Flusses stieg ihm in die Nase. Der Verkehr floss am Kai vorbei und über die Brücke dem Hotel gegenüber; im Hafen lagen wuchtige, dunkle Containerschiffe. Zu seiner Rechten ragte aus der Fassade des neugotischen Rathauses der Glockenturm in die Höhe, den er schon aus der

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