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Opfer

Opfer

Titel: Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathi Unsworth
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Ferne gesehen hatte.
    Das Hotel hatte eine Pseudo-Tudor-Fachwerkfassade und ein rotes Ziegeldach. Sean schloss den Wagen ab, nahm seine Taschen und ging hinein. Von einem Flur mit rotem Teppich ging es nach links in die Lounge Bar und nach rechts durch eine Milchglastür ins Restaurant. Der Geruch von Fleisch und Soße hing noch schwerer in der Luft als die Fahrstuhlmusik der Bar.
    Sean warf einen Blick hinein: ein Kupferherd mit gasbetriebenem Holzfeuer, gerahmt von zwei Schusterpalmen und Pferdegeschirrschnallen, die von den Balken hingen. Eine kleine Schar von Gästen mittleren Alters nippte an ihren Half-Pints und grübelte so ernsthaft über ihren Kreuzworträtseln, wie es nur Leute tun, die sonst nichts vorhaben. Eine gedrungeneFrau mit borstig-graumeliertem Bob und Tweedmantel sah auf und musterte ihn.
    »Zur Rezeption geht’s da lang«, verkündete sie lautstark und zeigte den Flur hinunter, was ein paar ihrer ergrauten Gefährten aufschreckte.
    »Danke«, erwiderte Sean verlegen.
    Die Rezeptionistin begrüßte ihn mit einem freundlichen Hallo, das nach Heuballen und Traktoren klang. Sie trug ein Nasenpiercing mit Strassstein, schwarze, weiße und rote Strähnchen, ein adrettes schwarzes Kostüm und eine blütenweiße Bluse. Am Revers heftete ein mit dem Hotellogo in Form eines Fischerboots versehenes Namensschild, das sie als Julie Boone, Hotel Manager auswies.
    Sie sah kaum älter aus als zwanzig. Komisch, dass die Mode, die noch so bedrohlich gewirkt hatte, als sie ein Baby gewesen war, heutzutage allgegenwärtig war und kaum noch auffiel. Außer natürlich, Julie war ebenfalls Mitglied eines Satanskults.
    »Danke, Sir.« Sie nahm ihm das Formular und die Kreditkarte ab. »Ah, Sie kommen aus London. Darf ich fragen, wie Sie von uns erfahren haben?«
    »Das örtliche Fremdenverkehrsbüro hat Sie mir empfohlen«, erklärte Sean.
    Julie wirkte zufrieden. »Wir haben Zimmer 4 für Sie vorbereitet, zweiter Stock mit schönem Blick über den Hafen. Der Aufzug ist gleich hier vorne«, sie wies ihm mit der Hand die Richtung, hielt aber plötzlich inne: »Oder sollen wir Ihnen mit dem Gepäck helfen?«
    Er hatte bloß eine Reisetasche, einen Aktenkoffer und seinen Laptop dabei, aber sie hatte ihn natürlich heranschlurfen sehen. Ihm war peinlich, dass er seit der Verletzung nicht mehr als normal durchging.
    »Nein«, erwiderte er, »das geht schon.«
    Das Zimmer sah frisch verputzt aus, war in unvermeidlichem Magnolia gestrichen und dann von jemandem eingerichtet worden, der die Farblosigkeit der Wände wieder wettmachen wollte. Sean sah sich die grelle Tagesdecke mit dazu passenden Vorhängen an: geometrische Formen in Türkis, Koralle und Gelb. Plötzlich erinnerte er sich daran, wie seine Mutter, als er ein Kind war, ihr Haus mit ähnlichen Stoffen ausgestattet hatte, darunter das große, weiche Sofa mit Knöpfen. Er stellte die Taschen neben das Bett und ging ans Fenster. Julie behielt recht, die Aussicht war wirklich schön, der Hafen und die Brücke wurden von umgerüsteten Gaslaternen erleuchtet und die Positionslichter der Schiffe spiegelten sich in langen Streifen auf dem dunklen Wasser der Erne.
    Das Bad gefiel ihm schon besser: eine große Wanne mit verchromtem Massage-Duschkopf. Er zog sich aus, stellte sich hinein und drehte das heiße Wasser auf. Es floss über das Narbenmuster auf seinem rechten Arm, den er damals schützend vor sich gehalten hatte. Dann war der Angreifer gestolpert und die Salve hatte seine Beine getroffen, wo sie den größten Schaden angerichtet hatte. Geschwülste in den Knien, dazwischen Metallschrauben. Stangen in den Schenkeln. Es hieß, er würde nie wieder laufen.
    Als er wieder auf die Straße trat, war es viertel nach sechs. Er war ein bisschen später dran als geplant. Es war aber nicht weit. Er hatte sich auf der Touristenkarte, die er an der Rezeption bekommen hatte, den kürzesten Weg herausgesucht.
    Die Klingel befand sich neben der dicken Stahltür zwischen einem Billigschuhgeschäft und einem Marie Curie’s. In der Metalleinfassung daneben steckte ein kleiner laminierter Streifen mit der Aufschrift EANG. Keine Erklärung, nicht mal der Name der Zeitung, sondern bloß das Akronym der Mutterfirma, der East Anglia News Group.
    Er klingelte und wartete. Die Läden ringsum hatten alle schon geschlossen, aber es kamen immer noch viele Leute vorbei. Übergewichtige Frauen mit Kinderwagen, denen übergewichtige Kinder mit Pommes in der Hand hinterherwatschelten. Teenager

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