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Opfer

Opfer

Titel: Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathi Unsworth
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um sie herum, als sie das Tor öffnete. Sie winselten in Vorfreude auf die Marsch, die sie ebenso liebten wie Francesca selbst. Dieses Ritual, den Tag vom alten Marschdeich aus zu begrüßen, hatte ihr über die letzten drei Jahre den Verstand bewahrt.
    Francesca hätte nie gedacht, dass sie nach Ernemouth zurückkommen würde. Aber als der Posten beim Mercury frei wurde, hatte ihre Mutter nur noch sechs Monate – und sie hatte ihren Vater einfach nicht mit all dem alleinlassen können. Stattdessen hatte sie getan, was auch ihre Mutter getan hätte: Sie hatte sich voll der vor ihr stehenden Aufgabe gewidmet und ihre eigenen kleinen Wünsche und Bedürfnisse hintangestellt. Hatte ihnen nie wieder nachgegeben.
    Bis gestern Abend.
    Die Hunde blieben oben auf dem Deich stehen und drehten sich nach ihr um, schlanke, schwarze Umrisse vor den ersten blassrosa Strahlen am Himmel. Jeden Morgen sah Francesca hier das Land von Neuem. Im Osten ging die Sonne über der Stadt auf, erweckte die Steine, malte die grauen Ziegel rot an und ließ die Farben weiter nach Westen schweifen, wo sich drei Flüsse trafen und das Wasser bis an den Horizont reichte. Man merkte jeden Tag, wie die Jahreszeiten langsam ineinander übergingen; sie war mit diesem Boden verbunden, diesem flachen Marschland, das sie als Kind so gehasst hatte und das ihr jetzt solchen Beistand, solchen Trost bot.
    Eine Formation pinkbeiniger Gänse flog vorüber und füllte die Luft mit ihren Rufen.
    Vor dem Anruf von Sean Ward hatte Francesca sich gefragt, ob ihre Ambitionen hier gestorben waren, am Rande der Broads, am Ende der Welt. Jetzt hatte sie das Gefühl, aus einem langen, traumlosen Schlaf aufgewacht zu sein, geweckt von der Antwort auf die Frage, warum sie hier geblieben war. Tief in ihrem Inneren hatte sie wohl gewusst, dass all die Dinge, die so lange geruht hatten, nicht für immer begraben bleiben würden.
    Jetzt war ein Mann mit traurigen Augen und hinkendem Gang gekommen und wollte die Grabsteine umstoßen, die Toten aufwecken, damit sie ihm ihre Geschichte erzählten.
    Und sie musste dafür sorgen, dass er es richtig machte.
    *
    Dale Smollet schlich sich mit angehaltenem Atem aus dem Schlafzimmer. Während er sich im Gästebad die Zähne putzte und sich rasierte, betrachtete er sich im Spiegel. Er begutachtete seine Kinnlinie und die kleinen Fältchen um die Augen, er zupfte sich die sauber geschnittene und gesträhnte Frisur mit etwas Wachs zurecht und besprenkelte sich mit Eau de Toilette.
    Dale fand, dass er für sechsunddreißig noch ziemlich gut aussah. Er schlug sich mit der Hand auf den Bauch, der dank regelmäßiger Fitnesscenter-Besuche und eiserner Disziplin in Sachen Kantinenessen und nächtlichem Fast-Food bretthart geblieben war, ganz anders als bei vielen seiner Kollegen. Zufrieden ging er ins Gästezimmer, wo er genug Klamotten bereithielt, damit er seine Frau nicht störte, wenn er zu unchristlichen Zeiten zur Arbeit musste.
    Dale legte sein Handy aufs Bett, damit es keinen Lärm machte, wenn es vibrierte, und zog sich schnell an. Ein frisch gebügeltes, gelbes Hemd und eine enge, graue Hose. Darüber einen blassgrauen Cashmere-Pullover mit V-Ausschnitt. Nicht viel anders, als er sich schon als Teenager angezogen hatte – oder gerne angezogen hätte. Heute konnte er sich edlere Stoffe und Marken leisten, seine lebenslange Liebe für italienischeMode voll ausleben. Trotz seiner dauerhaften, hingebungsvollen Ehe waren die Kinder ausgeblieben.
    Mit leisem Schritt stieg er die Treppe hinunter und ging in die Küche. Er horchte nach dem geringsten Geräusch, und seine Hand schloss sich feucht um das Telefon.
    Dale war seit fünfzehn Jahren Polizist und hatte es vom Constable zum Detective Chief Inspector geschafft. Kaum etwas machte ihm Angst. Doch gerade wartete einer der wenigen Auslöser dieses Gefühls vor der Hintertür auf ihn. Als er das Licht anschaltete, war eine große, braune Gestalt durch das Milchglas zu erkennen, als würde dort ein Grizzlybär lehnen. In Wirklichkeit stammte der Umriss von einem Lammfellmantel und einem Kopf mit dichtem, zurückgekämmtem Haar unter einem schwarzen Filz-Trilby mit Feder. Von der Panatella-Zigarre in einer riesigen Pranke stieg Rauch auf. Die Gestalt drehte sich langsam um, als sie den Schlüssel hörte.
    »Len«, sagte Dale.
    Der ehemalige Chef des Ernemouther CID sah ihn wortlos an und bedeutete ihm mit einem Nicken, nach draußen zu kommen. Erst als sie die Dunkelheit des Gartens hinter

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