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Opfer

Opfer

Titel: Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathi Unsworth
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fing an zu schwitzen, als Farrers Stimme lauter wurde. »Der Name Swing verbreitete sich wie ein Lauffeuer über sechzehn Counties bis nach Kent, Dorset, Huntingdonshire und Gloucestershire. Das Ganze erinnerte so sehr an die Französische Revolution, dass die Oberschicht eine Heidenangst bekam.«
    »Sie hören sich ja an, als wären Sie dabei gewesen.«, sagte Sean.
    Farrer’s leuchtende Augen fokussierten wieder auf Sean. »Danke«, erwiderte er. »Aber Sie wissen ja noch nicht mal das Wichtigste: Es hat Captain Swing nie gegeben.«
    Mit der Rechten nahm er das Buch namens Unquiet Country aus dem Regal. »Hier. Da können Sie die ganze Geschichte nachlesen.«
    »Danke, ich nehme es«, erwiderte Sean.
    »Gut, gut.« Der Buchhändler wirkte zufrieden. »Darf es noch etwas sein?«
    »Das reicht erst mal«, sagte Sean. »Danke.«
    Der Alte nickte und führte ihn flink zur Kasse. Erst als Sean das Geld in der Hand hatte, wagte er sein Glück.
    »Sie haben gesagt, der Pub heißt schon seit über hundert Jahren so«, sagte er.
    »Genau«, erwiderte Farrer und legte den Zehn-Pfund-Schein in die Kasse.
    »Aber der Wirt meinte, der Pub hieß eine Zeitlang The Royal Oak. In den Achtzigern, glaube ich. Wissen Sie, warum er umbenannt wurde?«
    Farrers Nase zuckte, als er Sean einen Penny rausgab. »Tja«, flüsterte er. »Ich weiß nicht, wie viel Sie schon über unsere Geschichte wissen, aber ich rate mal, dass Sie zum ersten Mal in Ernemouth sind, richtig?«
    »Genau.« Sean steckte den Penny ein.
    »Damals gab es hier einen Vorfall, der auf besondere Weise mit diesem Pub und seinen Gästen zu tun hatte. Erst passierte ein schrecklicher Mord, und dann« – Farrer warf einen Blick auf die Tür – »folgte eine Hexenjagd.«
    Sean gab sich verwirrt. »Meinen Sie die 1980er oder die 1880er?«
    Die Türglocke läutete, und die Tür ging auf, bevor der Alte antworten konnte – anscheinend war er von dem neuen Kunden abgelenkt.
    »Ach, hallo, meine Liebe«, sagte Farrer, dessen freundliches Lächeln wieder sein faltenfreies Gesicht erleuchtete. Dann sah er wieder Sean an. »Tut mir leid, Sir, würden Sie mich bitte entschuldigen? Ich muss hier eben eine Sonderbestellung übergeben.«
    »Kein Problem«, erwiderte Sean beinahe zähneknirschend. Er drehte sich nach dem Neuankömmling um.
    Dort stand sie in ihrem Leopardenmantel, das halbe Gesicht auch am hellichten Tag hinter dem langen, schwarzen Pony verborgen.
    »Aber kommen Sie doch bald wieder«, forderte Farrer ihn auf, »jederzeit.«
    Wieder musste Sean seine Vorstellungskraft bändigen und den Gedanken verscheuchen, dort stünde jene Corrine Woodrow aus den Achtzigern vor ihm. Doch als er näher heranging, sah er, dass unter dem Pony grüne Augen herausschauten. Corrines Augen waren braun, da war er sich sicher.
    Die Frau sagte etwas zu ihm, aber er verstand es nicht.
    Sean blinzelte. »Bitte?«, fragte er. Was war mit ihrer Stimme los?
    »Geht es Ihnen wieder besser, hab ich gefragt. Ihre alte Kriegsverletzung, wissen Sie noch?«
    Sean zwang sich zu lächeln, aber ihm rumorte der Magen. In den Beinen spürte er tausend Nadelstiche. »Ach ja. Mir geht’s gut, danke. Ich, äh …« Er griff nach der Türklinke, und sie trat einen Schritt zur Seite. »Ich geh dann mal.«
    »Wir sehen uns«, sagte sie, als er die Tür hinter sich schloss.
    Sean ging schnell die Gasse entlang zurück zum Kai.
    Die Wolken vom Vortag waren einem blassblauen Himmel gewichen, und die Fensterscheiben reflektierten die Sonne, dieallerdings nicht viel Wärme brachte. Über ihm schossen Möwen durch die Luft und kreischten einander zu, und der Geruch des Flusses stieg ihm in die Nase. Ein normaler neuer Tag in einer normalen Kleinstadt. Die Schmerzen in seinen Beinen ließen nach, als sich sein Puls normalisierte.
    »Reiß dich zusammen«, ermahnte er sich. Er dachte an Francescas Zeitungsausschnitte auf dem Bett. »Und mach dich an den Papierkram.«
    Er hatte noch zwei freie Stunden vor seinem Treffen mit Rivett.

12
    SIEHST DU MICH?
    Oktober 1983
    »Das hier ist dein Zimmer«, sagte Amanda und öffnete die Tür. »Gefällt’s dir?«
    Der Raum war ganz oben im Haus und bot einen Blick über Dächer, Schornsteine und die Eisen-und-Glas-Decke der Victoria Arcade. Amanda hatte eine grau-schwarz-rot-gestreifte Tapete mit passendem Bettzeug ausgesucht, dazu schwarze Lackmöbel und Kissen mit roten Kunststoffbezügen. Nicht, dass sie einen Ausdruck von Dankbarkeit in den missmutigen Zügen ihrer Tochter

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