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Opfer

Opfer

Titel: Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathi Unsworth
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in ihm fragte sich, wie sie auf die schiefe Bahn geraten war.
    »Danke«, sagte sie, als sie den Becher in beide Hände nahm. Sie hatte Pandaaugen von dem verschmierten Make-up.
    »Ich hab die hier gefunden.« Gray hatte ein paar Cremeplätzchen zusammenstibitzt und auf eine Untertasse gelegt. Das Mädchen verschlang sie in Sekunden und schlürfte dann geräuschvoll ihren Tee. Dürres, kleines Ding. Gray fragte sich, wann sie zum letzten Mal etwas zu essen bekommen hatte.
    Er warf einen Blick auf das Buch, das sie mit dem Rücken nach oben auf dem Bett hatte liegen lassen. Es war alt und hatte einen schwarzen Ledereinband mit Blattgoldprägungen – eine Königin mit Krone, ein Mann auf einem Kamel, ein Drache mit ausgebreiteten Flügeln –, die nach mittelalterlichem Bestiarium aussahen.
    Ars Goetia , las er, Das Schlüsselchen Salomons . Clavicula Salomonis Regis .
    War das ein Geschichtsbuch? Konnte er sich kaum vorstellen.
    Übersetzt von Samuel Liddell MacGregor Mathers , las er weiter. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Aleister Crowley .
    »Was liest du denn da?«, fragte er und wusste einfach nicht, wo er den Namen Crowley schon mal gelesen hatte.
    Die Finger mit den schwarzlackierten Nägeln rissen ihm das Buch sofort aus der Hand. »Was geht Sie das an?« Ihr Gesicht hatte sich plötzlich wieder in eine feindselige Maske verwandelt. »Das dürfen Sie mir nicht wegnehmen. Das ist ein seltenes Buch, das mir an-ver-traut wurde.« Der letzte Satz bereitete ihr Mühe, als hätte sie ihn auswendig lernen müssen. »Ich muss darauf aufpassen.« Der Keksteller und der Becher Tee spielten jetzt keine Rolle mehr, und sie umklammerte das Buch mit beiden Armen.
    »Ist ja gut.« Gray musste sich beherrschen, nicht loszulachen. Sie hatte sich bislang alle Mühe gegeben, durchtrieben zu wirken, aber jetzt war klar, dass sie auf dem emotionalen Niveau eines viel jüngeren Kindes war. »Ich will’s dir doch gar nicht wegnehmen, ich hab so was nur noch nie gesehen. Liest du das für die Schule oder so?«
    Corrine wirkte verwirrt. »Neeee«, sagte sie und schüttelte langsam den Kopf. »Aber man kann schon sagen, dass ich daraus was lerne.«
    »Das ist doch gut«, erwiderte Gray. »Was denn?«
    Das Mädchen legte den Kopf auf die Seite und starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Wie ich mich verteidigen kann«, sagte sie schließlich.
    Das fand Gray gar nicht mehr lustig. »Aha. Tja, ich kann mir denken …«
    Er wurde von einem Klopfen unterbrochen. »Paul, bist du da drin?«, kam Roy Mobbs’ Stimme durch die Klappe. »Die Sozialarbeiterin ist da.«
    »Alles klar«, sagte Gray. »Dann bring sie mal rein.«
    »Ach, Scheiße, Mann!«, Corrine kroch auf dem Bett an die Wand und zog die Beine an den Körper. Bevor Gray sich zurTür umdrehte, sah er noch, wie das Mädchen sich das Buch unter das schmutzige Oberteil schob und die Arme davor verschränkte.
    Vor der Zellentür stand eine kleine Frau in braunem Anorak, mit wirrem, graumeliertem Haar. Sie sah aus, als wäre sie bei der Gartenarbeit unterbrochen worden.
    »Sheila Alcott«, sagte sie und streckte die rote Hand aus. »Ist sie da drin?«
    »Genau«, erwiderte Gray, »schön, Sie kennenzulernen, Mrs Alcott.« Sheila sah ein bisschen nach Dorfhippie aus, aber ihre Stimme hatte etwas von der Strenge einer Lehrerin.
    »Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte«, sagte Sheila, deren wasserblaue Augen besorgt aussahen. »Ich wohne leider auf der anderen Seite der Acle Straight und hab gerade knietief im Kompost gesteckt, als Sie mich angerufen haben. Hoffentlich mussten Sie nicht zu lange warten.«
    Sie zog ein gepunktetes Taschentuch hervor und schnäuzte sich. Aus dem Chaos ihrer Haare ragte ein Strohhalm heraus.
    »Ich hatte schon befürchtet, dass bei Corrine irgendwann so etwas passieren würde«, fuhr sie fort. »Kann ich mit ihr reden?«
    Gray wollte gerade antworten, als eine Frauenstimme durch den Gang kreischte.
    »Wo ist sie? Was habt ihr alten Schweine mit meiner Tochter gemacht?«
    Eine Frau, deren dunkle Augen vor Wut brannten, stapfte auf sie zu.
    »Oh«, sagte die Sozialarbeiterin. »Sie haben also Mrs Woodrow gefunden.«
    Niemand hatte sie gerufen, dachte Gray, von den Buschtrommeln in den Straßen von Ernemouth abgesehen, der Gerüchteküche, die überall dort brodelte, wo Leute wie Mrs Woodrow sich aufhielten.
    Sie sah nicht so aus, wie man es erwartet hätte. Die Sünden ihres Lebenswandels hatten sich nicht in einem

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