Opfer
ausgemergelten Körper, schlechter Haut und stumpfen, fettigen Haaren niedergeschlagen. Sie sah eher aus wie eine junge Elizabeth Taylor in schwarzen Bikerklamotten, der das rabenschwarze Haar bauschig um die Schultern fiel.
»Wo ist die kleine Schlampe?«, wollte sie wissen, als sie auf 18-Zentimeter-Plateauschuhen herankam.
*
Corrine gefror das Blut, als draußen das Geschrei losging. Sie konnte sich einfach nicht an die Dinge erinnern, die Noj ihr beigebracht hatte, an die Formeln, die sie aufsagen sollte, um die Macht ihrer Mutter zu brechen. Die Stimme der alten Schlampe und der Gedanke, dass sie das heilige Buch in die Finger bekommen könnte, machten ihr solche Angst, dass in ihrem Kopf nur noch alles rauschte wie bei einem Fernseher, der abends nach der letzten Sendung angeblieben war.
Sie hatte eigentlich keins von Nojs Büchern mitnehmen dürfen, als sie am Nachmittag bei ihm losgegangen war. Aber sie hatte alles noch schneller lernen wollen. Verzweifelt schob sie es sich tiefer in den Bund und hoffte gegen alle Vernunft, dass es dort übersehen würde.
Dann passierte etwas Eigenartiges.
Plötzlich sah sie Nojs Augen, klar, grün und scharf. Das Rauschen ließ nach, und seine Stimme erklang und sagte ihr, was sie tun musste. »Schließ die Augen, Corrine. Eine Kugel weißen Lichts umhüllt dich. Siehst du sie?« Corrine nickte. Tatsächlich leuchtete vor ihrem inneren Augen ein weißer Ball.
»Jetzt verschwimmt die Kugel und nimmt die Formen und Farben des Raumes an, in dem du sitzt.« Corrine kam es vor, als würde sie durch die Luft schweben. Sie sah die beigefarbene Wolldecke, die graugrünen Wände der Zelle und den matschbraunen Fußboden durch ihre Arme und an ihrem Körper hinabgleiten. Alle Geräusche aus dem Flur verschwanden, als der Lichtkreis sich um sie schloss.
»Werde eins mit dem Licht«, hörte sie Noj sagen. »Werde eins mit dem Licht und verschwinde.«
Sie hörte nicht, wie die Tür sich öffnete, und sie sah nicht die Leute, die über ihr standen.
»Sie ist ohnmächtig«, sagte Sheila Alcott, die vorsichtig Corrines rechtes Augenlid hochgezogen hatte.
»In der Position?«, fragte Gray. Corrine saß ganz aufrecht da.
»Sie ist katatonisch«, sagte Sheila wie jemand, der so etwas schon oft gesehen hatte. »Wir müssen einen Krankenwagen rufen.«
*
Als Corrine aufwachte, roch es eigenartig. Sie blinzelte und versuchte, sich zu orientieren. Erst nach ein paar Augenblicken verstand sie, dass sie in einem Krankenhausbett lag, und nach ein paar weiteren, wie sie hierhergekommen war.
Sie bekam kurz Panik, als sie glaubte, sie hätte Nojs wertvolles Buch verloren. Aber als sie den Kopf drehte, sah sie es sicher auf dem Nachttisch liegen. Ihre Mutter, die Polizisten und die Sozialarbeiterin waren alle weg, und alles war still – sie lag nicht in einem großen Saal, sondern in einem kleinen Einzelzimmer. Durch die Jalousien trat in schrägen Streifen Sonnenlicht ein.
Da wusste Corrine, dass Magie wirklich funktionierte.
15
BLUTSBRÜDER
März 2003
Sean sortierte vor sich auf dem Tisch die Polizeifotos von Corrines Freundeskreis – soweit bekannt. Sie waren alle festgenommen worden, nachdem Gray Corrine am Tatort gefunden hatte, wurden aber später alle wieder ohne Anklage freigelassen. Ihre Aussagen, die mit Büroklammern an die Fotos geheftet waren, gaben an, dass sie fast alle bei einer Razzia bei Captain Swing’s ins Netz gegangen waren.
Bekannte Gesichter starrten ihn an.
Marc Anthony Farman, 14, wohnhaft 52 Regent’s Road, Ernemouth. Schüler an der Ernemouth High School. Verwarnt wegen Fernbleibens vom Unterricht und Alkoholkonsums.
Der derzeitige Wirt des Pubs hatte früh angefangen.
Shaun Terence McDonald, 18, wohnhaft 23 Havelock Road, Ernemouth. Angestellter bei Maples Poultry.
Der Mann mit der Krücke und dem freundlichen Gesicht. Gefolgt von seinem Freund Bugs, mit bürgerlichem Namen: Harvey Matthew Bunton, 20, wohnhaft 74 Scratby Road, South Town, Ernemouth. Angestellter bei Locke & Co Transit.
Der Skinhead und der Punk, die am vorigen Abend Billard gespielt hatten, hießen Kristian Kemper und Damon Patrick Bull, waren damals beide achtzehn, beide wohnhaft 21A St Peter’s Road und bei der Stadt angestellt als Landschaftsgärtner. Was vielleicht ihre Hingabe bei der Pflege ihrer Kopfgewächse erklärte.
Ihr seid also die alte Gang, dachte Sean, als er die Angaben in seinen Laptop tippte.
Nach drei Stunden in den Tiefen des Ernemouther Polizeiarchivs
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