Opfer
Landschaft.
»Wenn Sie mir eben Ihre volle Aufmerksamkeit schenken würden.« Rivett ließ den Blick über die versammelten Polizisten der Nachtschicht schweifen und kurz auf seinen Lieblings-Detective-Sergeants Jason Blackburn und Andrew Kidd verharren. »Wie wir alle wissen«, setzte er an, »ist es eine undankbare Arbeit, die Perversen von den Straßen zu holen. Aber ich weiß, dass Sie« – jetzt sah er Gray an – »diese Aufgabe mit Überzeugung erfüllen. Das Pflichtbewusstsein von Polizisten Ihres Kalibers ermöglicht es meinen lieben kleinen Charlotte und Thomasina, nachts sicher in ihren Betten zu schlafen.«
Gray senkte den Blick auf seine Schuhe. Als er wieder hochschaute, musterte Rivett ihn noch immer.
»Weiterhin ist jeder von Ihnen im Laufe der Dienstzeit« – er ging um den Schreibtisch und hielt ein Foto hoch – »schon mal dieser Frau hier begegnet.«
Ein Verbrecherfoto. Selbst im Blitzlicht des Polizeifotografen strahlte sie noch eine unverschämte Schönheit aus.
»Janice Bernice Woodrow«, erklärte Rivett. »Oder Gina, wie sie sich gerne nennt. Ist vor einem guten Jahr aus Norwich hierhergezogen und will sich einen Namen machen. Macht ganz schön was her, oder?«
»Bis sie den Mund aufmacht«, sagte Gray, der sich an ihr letztes Treffen erinnerte.
»In der Tat, Detective.« Rivett nickte. »So, ich habe mit dem Hafenmeister über ein Schiff gesprochen, das regelmäßig nach Holland fährt. Sie wissen ja, wie die Seeleute sind: Geraten auf Landgang immer in die falsche Gesellschaft. Einen davon observieren wir.« Er warf Gina Woodrows Foto auf den Tisch und zog ein anderes aus einer Akte von seiner Ablage. »Einen gewissen Nicholas Knobel.« Ein schmales, hageres Gesicht mit hohen Wangenknochen und extrem matten Augen starrte sie an. »Und der gewinnt, wenn Sie ihn heute Abend festnehmen, den Preis als dreckigstes Schwein an Bord der Sealander .«
»Ach?« Gray kratzte sich am Kopf. »Wofür denn?«
»Heroin«, antwortete Rivett. »Das ist nämlich die Ursache unserer jüngsten Selbstmordepidemie. Und unsere liebe Gina verwaltet den Vorrat, sie ist die Kontaktperson für die ganzen Biker, die das Zeug unter die Leute bringen. Zum Glück für uns konnte sie ihr Schandmaul nicht halten. Ich hab gehört« – Rivett sah auf die Armbanduhr –, »sie trifft sich heute Abend mit ihm, wenn er Landgang hat. Und der beginnt ziemlich genau jetzt. Wenn er in unserer Lieblingskneipe in der Market Row angekommen ist, kommen Sie herein und nehmen die beiden hoch. Die haben das Zeug dabei, das verspreche ich Ihnen.«
Er griff in die Hosentasche. »Ich hab Ihnen einen Wagen reserviert«, sagte er und warf Gray die Schlüssel zu. »Hinter dem Pub ist ein Parkplatz, also müssen Sie sie nicht weit schleifen.«
*
Gray setzte sich ans Steuer, Blackburn und Kidd vorne neben ihn, und hinten nahmen noch zwei jüngere Burschen Platz.
»Zum Totlachen«, sagte Kidd, »wir sollen mit fünf Leuten los, um ’ne Schlampe und ’nen Holländer hochzunehmen. Für was für Schwuchteln hält Len uns eigentlich?«
»Du kennst Gina wohl noch nicht, was?«, fragte Gray und drehte den Zündschlüssel um.
Kidd rieb sich den Schritt. »Nein, das Vergnügen hatte ich noch nicht. Oder besser gesagt, sie.«
»Mmmm…« Blackburn rieb seinen Schlagstock, und die beiden lachten dreckig. Gray fuhr los und ignorierte die beiden, so gut es ging.
»Wahrscheinlich geht’s um die Biker«, sagte Gray. »Sie hat bestimmt Verstärkung dabei. Das Teil brauchst du also gleich.« Er warf Blackburn einen Blick zu, der immer noch an dem Knüppel herumfummelte, und gab Gas.
»Wee-hee!« Blackburn gab den Cowboy. »Da haben wir wohl ’ne Schießerei am OK Corral vor uns, was, Jungs?« Er drehte sich zu den jüngeren Männern um. Gray bog zweimal links ab, und sie waren auf der George Street.
»Wooo-weee!«, rief ein anderer Komiker von hinten. »Jetzt schnappen wir uns ein paar Indianer!«
Gray bog auf den Parkplatz des Pubs ein, und die Scheinwerfer strahlten eine Reihe getunter Triumph- und Norton-Motorräder an.
»Ich geh vorne rein«, sagte er. »Ihr kommt dann von hinten. Wie immer.«
Gray musste den Kopf einziehen. Als der Pub gebaut worden war, war wohl kaum einer der Gäste über eins fünfzig gewesen.
Vom Eingang aus sah er sich in dem schwach beleuchteten Raum um. Tiefe, schwarze Balken verliefen bis zur Fachwerk-Theke mit Kupferoberfläche, hinter der sich mit Holzwänden abgeteilte Sitzecken befanden. Über den
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