Opfer
die Augenbraue hoch. »Aber im Gegensatz zu allen anderen, hinter denen sie her waren, hat mich niemand gesehen.«
Der Tee war gut, genau so stark, wie Sean ihn mochte, was kaum jemand hinbekam.
»Alles klar«, sagte er, »dann mal von Anfang an.«
»Gerne«, erwiderte Noj und faltete die Hände. »Corrine und ich waren tatsächlich auf derselben Schule, aber wir haben uns nicht dort angefreundet. Wir sind uns nur zufällig abends und am Wochenende immer an denselben öffentlichen Toiletten an der Promenade über den Weg gelaufen.«
Sie hielt inne und ließ ihn die Information verdauen.
»Sie sind auf den Strich gegangen?«, fragte Sean. »Wie alt waren Sie denn?«
Sie nickte. »Vierzehn, fünfzehn. So haben wir uns besser kennengelernt. Ich habe meistens direkt dort gearbeitet, Corrine ging mit ihrer Kundschaft lieber unter den Pier und wusch sich hinterher in der Toilette. Jedem Tierchen …«, sie wischte sich mit dem kleinen Finger über den Mundwinkel.
»Corrine hasste es«, setzte sie fort. »Ihre Mutter hat sie mit zwölf das erste Mal verkauft. An drei dreckige Biker auf einmal, hat sie mir erzählt. Sie hat zwar manchmal gerne ein bisschen übertrieben, aber das habe ich ihr geglaubt. Können Sie sich das vorstellen?« Sie schloss die Augen und presste die Hände fester zusammen. »Und das beim ersten Mal?«
»Nein«, Sean schüttelte den Kopf. »Das kann ich Gott sei Dank nicht.«
»Ach, danken Sie dem doch nicht«, sagte Noj und riss die Augen auf. »Auf jeden Fall« – sie schüttelte die Finger aus, als wollte sie den Allmächtigen aus dem weiteren Gespräch verbannen – »war diese Frau ein Monster. Corrine handelte mit ihr schließlich den Kompromiss aus, dass sie es nicht mehr zu Hause tun musste, wenn sie jede Woche genug Geld mitbrachte. Im Sommer war alles in Ordnung, da arbeitete sie in einem Gästehaus. Aber wenn die Saison vorbei war, tja …«
Sean trank noch einen Schluck Tee. Dinge wie diese hatten ihn glauben lassen, dass sein Beruf sinnvoll war, zumindest vor der Nacht in Meanwhile Gardens …
»Bei mir war es anders«, erklärte Noj. »Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können, aber …« Sie grinste schief. »Aber ich habe die Idioten gerne reingelegt. Die waren nur ein Mittel zum Zweck.«
Sie starrte ihn durchdringend an. »Mir ging’s nicht nur ums Geld«, setzte sie fort, »auch wenn das natürlich geholfen hat. Mir ging’s um die Macht. An einem Ort wie diesem brauchen Leute wie ich eine Versicherung, und meine hab ich mir so beschafft. An meinem hübschen, jungen Arsch waren nämlich nicht nur die erbärmlichen alten Säcke interessiert, die an den Toiletten herumhingen, müssen Sie wissen. Es gab da auch viele hochrespektierte, bekannte Musterbürger unseres kleinen Seestädtchens. Und jedes Mal, wenn die dachten, sie würden mich ficken, hab ich sie doppelt zurückgefickt …«
Noj sah jetzt nicht mehr Sean an, sondern starrte durch ihn hindurch in eine Vergangenheit, die Sean sich lieber nicht vorstellen wollte. Dabei schien sie Gefahr zu laufen, vom Thema abzukommen.
»Also«, setzte Sean an, der sie wieder zurücklenken wollte, »Corrine tat Ihnen leid, ja?«
Noj warf ihm einen bösen Blick zu. »Ja. Sie war so hilflos. Ich wollte ihr zeigen, wie sie sich schützen kann.«
»Indem sie sich die Haare schwarz färbt?«, fragte Sean. »Das hatte sie doch von Ihnen, oder?«
Noj blinzelte müde. »Nein. Von denen gab’s an der Ernemouth High eine Menge, wie Sie wissen. Ich gehörte nicht dazu. Damals wäre ich Ihnen überhaupt nicht aufgefallen, und das wollte ich auch so.«
»Wie denn dann?« Sean warf einen Blick auf das Tattoo auf Nojs Hand. »Mit schwarzer Magie?«
Noj schürzte die Lippen, und ihr Blick wurde steinhart. »Jetzt nerven Sie mich langsam«, sagte sie. »Vielleicht habe ichmich doch in Ihnen geirrt, und Sie sind doch genauso wie Rivett und alle anderen von euch.«
»Aber vielleicht bin ich doch anders«, erwiderte Sean und fragte sich langsam, ob das alles doch nur der Egotrip eines Death-Junkies war, der – oder die – sich partout in die Geschichte verwickeln wollte. Trotz aller Dramatik hatte Noj ihm noch nicht viel erzählt, was er nicht schon vorher gewusst hatte. »Wissen Sie, wie man uns in London genannt hat?«, fragte er. » The Beast .«
Sie lachte kreischend auf und hielt sich dann die Hand vor den Mund.
»Das ist gut«, sagte sie, »euch nach ihm zu benennen. Auch wenn er« – ihr Lächeln verschwand wieder – »in
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