Opfer
weit.
Gina war oben an der Treppe stehen geblieben, eine Hand auf dem Gesicht. Sie bebte, als sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten.
Corrine beobachtete sie wie erstarrt von der Türschwelle aus, während ihr sich widersprechende Gefühle den Magen umdrehten. Sie hätte eigentlich glücklich sein müssen, ihre Mutter endlich mal so zu sehen. So oft, wie sie über Corrine gestanden hatte, wenn es ihr ähnlich schlecht gegangen war, und ihr verächtliche Worte an den Kopf geworfen hatte, die sich schlimmer in Corrines Seele brannten als Salz in eine Wunde und sie überzeugten, dass sie wertlos und dumm war, ein blöder Fehler, der einfach in einem Kondom weggespült hätte werden sollen und kein Glück verdiente nach all dem Ärger, den er gebracht hatte.
So oft, wie sie Corrine Psycho, Wiz und Scum gegeben hatte, die mit ihr machen konnten, was sie wollten, während sie über ihre Tränen gelacht und gesagt hatte, sie müsse eben härter werden. So oft, wie Rat ihr die Hände um den Hals gelegtund ihr erklärt hatte, was passieren würde, wenn sie jemals etwas sagte, und sie runter zu der Beule in seiner Jeans drückte, wo er sein Jagdmesser versteckte.
Nach all den dreckigen Männern unter dem Pier und dem Geld, das sie geklaut hatte.
Aber Corrine hatte ihre Mutter noch nie weinen sehen. Sie hatte sie überhaupt noch nie verletzlich gesehen. Glücklich auch nicht. Von klein auf hatte sie Gina ein Lächeln entlocken wollen. Dieses Gesicht, dieses schöne Gesicht, das sie in ihren eigenen schlichten Zügen überhaupt nicht wiedererkannte, hatte sie mit etwas wie Liebe erstrahlen sehen wollen.
Dieses alte, tiefsitzende Bedürfnis, das sie so lange gefangen gehalten hatte, erfasste sie jetzt wieder. Ohne nachzudenken öffnete sie den Mund. »Mum«, sagte sie, schob die Tür auf und ging einen Schritt auf sie zu. »Was ist denn?«
Gina hob den Kopf. Ihre Wangen waren schwarz vom Mascara. Sie öffnete den Mund und schloss ihn still wieder. Dann breitete sie die Arme aus.
Corrine ging zögernd auf sie zu und wusste nicht, ob sie diesen perfekten Körper in schwarzem Leder und Netzstrümpfen, der früher so eine uneinnehmbare Festung gewesen war, wirklich umarmen durfte. Sie berührte sie erst vorsichtig, doch als Gina reagierte, presste sie sich fest an sie. Corrine roch den Gifthauch der Männer auf der Haut ihrer Mutter.
»Wird alles gut, Mum«, sagte sie und kam sich vor, als würde sie träumen. »Wird alles gut.«
Gina streichelte Corrine die Haare, zunächst zart und gedankenverloren. Aber als sie sich fester umarmten, dass Corrine fast die Luft wegblieb, packte und zerrte sie ihre Tochter an den neuen, schwarzen Zöpfen, diesen erbärmlichen Imitationen ihrer eigenen, vollen, schwarzen Mähne. Sie, Gina, hatte seit zwanzig Jahren nicht mehr geweint, seit sie dreizehn gewesen und ihr Stiefvater in ihr Zimmer gekommen war und gemeint hatte, er könne sich bedienen. Sich an etwas bedienen, wofür von da an alle teuer bezahlen mussten, sei es mit Geld,sei es anders. Was ihre dumme, naive, hässliche kleine Tochter nie kapiert hatte, so sehr sie es ihr auch eingeprügelt hatte. Was hatte sie sich denn gedacht …
»Au!« Tränen schossen Corrine in die Augen, als ihr der Kopf zurückgerissen wurde.
»Was willst du hier überhaupt?«, fragte Gina. »Ich dachte, du hättest Besseres zu tun.«
»Ich … Ich wollt’ bloß …«, setzte Corrine an, wusste aber nicht weiter.
»Hier hat sich was geändert«, zischte Gina, deren schmutziges, tränenverschmiertes Gesicht sich in eine hinterhältige Maske verwandelte. »Du musst jetzt zahlen, wenn du hier wohnen willst. Diese arrogante Sozialarbeiterin und die ganzen Lehrer tun mir doch ’nen Gefallen, wenn sie dich mir abnehmen. Meinetwegen kannst du im Waisenhaus verrotten!« Sie lachte hysterisch.
»Ach, Scheiße«, sagte Corrine und versuchte, sich von ihrer Mutter loszureißen.
Gina gab ihr eine schallende Ohrfeige. »Genau, ach, Scheiße!«, fauchte sie. Wieder änderte sich ihr Gesichtsausdruck grundlegend, sie verzog die Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen, und ihre Augen leuchteten wahnsinnig, während sie mit dem Fingernagel über Corrines Gesicht strich, auf dem die Adern hervortraten.
»Aber halt«, sagte sie und starrte ihre Tochter an, als sähe sie sie zum ersten Mal. »Du hast dir ja in letzter Zeit solche Mühe gegeben, dich ein bisschen rauszuputzen. Dafür musst du doch belohnt werden. Ja?« Gina lächelte. »Ich glaube, ich hab da was
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