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Opfer

Opfer

Titel: Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathi Unsworth
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für dich.«
    Corrine wusste nicht mehr, was sie sagen oder tun sollte. Wieder legte sich diese Schwere über ihre Sinne, ihre Gefühle setzten aus, sie blockte alles ab, und so stand ihre Mutter vor ihr und bewegte den Mund, ohne dass sie etwas hören konnte.
    Gina ließ sie los und schob sie zurück in ihr Zimmer. »Nimm dir deinen Schönheitsschlaf. Den wirst du brauchen.«

25
    WEIßE MAGIE
    März 2003
    Dale Smollet stand im Eingang des Bunkers und kaute am gepflegten Daumennagel. Sonst zeigte er keine Regung, während er den Spurensicherer Ben Armitage bei der Arbeit beobachtete.
    Sean dachte daran, wie es wohl für Paul Gray gewesen war, als er die Szene am 18. Juni 1984 entdeckt hatte. Die Tatortfotos, die er sich in schwarz-weiß eingeprägt hatte, bekamen langsam Farbe. Der Strand an einem heißen Sommertag, ein Geruch nach Meer und Sonnencreme, die Schreie der Möwen – eine Szene aus tausend Familienurlauben. Und dann trat Gray aus dieser Welt zum ersten Mal in den Betonbunker und sah das Bild eines Ritualmords vor sich – schwarze Haare, weiße Haut und klaffendes, rotes Fleisch. So etwas Widernatürliches, Unerwartetes kann man in den ersten Sekunden nicht verarbeiten, aber dann wird man sich bewusst, was man da Schreckliches vor sich hat …
    Und noch etwas.
    Corrine Woodrow, zusammengekauert in einer Ecke, die Knie ans Kinn gezogen, die Arme darumgeschlungen, starrte ihm mit glasigen, leeren Augen entgegen. Sean hatte sich dieses Bild immer und immer wieder vorgestellt, aber langsam änderte sich der Inhalt. Stand die Corrine in seiner Rekonstruktion unter Schock über das, was sie getan hatte, oder befand sie sich in einem Krampfzustand, in dem sie weder sich selbst noch das Opfer hatte verteidigen können?
    Gray war damals dreiunddreißig gewesen, bloß ein paarJahre älter als Sean jetzt. Was hatte diese Entdeckung mit ihm angestellt?
    Sean schaute zu Rivett hinüber, der ein Stück entfernt auf einer Düne den Kopf vor dem Wind einzog und nach potenziellen Gaffern Ausschau hielt.
    Er wollte den beiden tausend Fragen stellen, aber dafür war jetzt der falsche Zeitpunkt. Er sah wieder den Detective Chief Inspector an.
    »Ist so etwas hier noch nie passiert?«, fragte Sean.
    Smollet legte die Stirn in Falten und drehte langsam den Kopf, als würde es ihm große Mühe bereiten, den Blick von der Szene loszureißen. Vielleicht entwickelte sich auch vor seinen Augen ein bestimmtes Bild.
    Oder erinnerte er sich an etwas?
    »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, erwiderte er.
    »Mordtouristen«, erklärte Sean. »Sie wissen schon. Kranke Typen, die an Orte wie diesen pilgern und ihren persönlichen Tribut zollen. Je schockierender die Tat, desto öfter kommt so etwas vor. Ich hatte mir gedacht, dass der Bunker solche Leute magisch anzieht.«
    »Ach«, Smollet nickte. »Jetzt weiß ich, was Sie meinen. Nein, davon hab ich hier noch nicht gehört. Len kann Ihnen da mehr sagen, aber ich meine, damals wurde der genaue Ort nicht an die Presse weitergegeben, damit so was nicht vorkommt. Hier an der Küste gibt’s Dutzende von diesen Bunkern, müssen Sie wissen. Da kann man die Jugendlichen natürlich nicht aus allen raushalten …«
    »Die meine ich doch«, sagte Sean. »Die Jugendlichen von hier. Die haben doch garantiert so ihre Legenden. Solche schrecklichen Dinge finden die doch unheimlich faszinierend. Vielleicht war hier nur irgendeinem kleinen Spinner langweilig, vielleicht hatte er eine Wette verloren?«
    »Das halte ich für unwahrscheinlich.« Der Spurensicherer kam wieder nach draußen und nahm die Maske ab. Armitage sah wie Anfang dreißig aus, trat aber so ernsthaft auf wie jemand Älteres. Unter seinen braunen Locken lag eine tief zerfurchte Stirn, und er hatte die zusammengekniffenen Augen von jemandem, der den ganzen Tag in ein Mikroskop starrt.
    »Dafür sieht das Ganze für mich viel zu genau geplant aus«, erklärte er.
    Sean und Smollet sahen einander an. »Inwiefern?«, fragte Smollet und verschränkte die Arme.
    »Erstens«, sagte Armitage, »das ganze Wachs. Da hat jemand fünf, sechs Stunden gesessen, vielleicht über Nacht und eine ganze Menge Kerzen abgebrannt – und ich vermute, die Untersuchung wird ergeben, dass es keine normalen waren.«
    »Der Geruch.« Sean erinnerte sich an das, was ihm in die Nase gestiegen war, als er sich über das erstarrte Wachs gelehnt hatte. »Hat der etwas damit zu tun?«
    »Tja, das waren jetzt nicht solche schicken Duftkerzen, die sich meine Frau fürs

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