Opfer
gucken mal, was so los ist. Oder kannst du ihn schon nicht mehr hören?« Seine blauen Augen waren ernst, und die Sommersprossen auf seiner Nase schimmerten durch die Grundierung.
»Quatsch.« Debbie setzte sich schwungvoll auf. »Ist doch auch mein Lieblingssong. Den kannst du so oft spielen, wie du willst.«
»Cool.« Darren ließ ihre Finger los und stand auf. »Ich mach’ mich dann nur eben fertig.« Er ging zum Spiegel und warf auf dem Weg einen Blick aus dem Fenster. Als er etwas sah, blieb er unwillkürlich stehen.
»Hast du das da die ganze Zeit angestarrt?« Mit verwirrtem Blick wandte er sich wieder Debbie zu. »Da draußen sitzt wer auf dem Baum.«
*
Von der Astgabel der Eibe aus konnte Corrine den ganzen Friedhof überblicken, vor allem auch den Weg, der sich wie ein graues Band im orangefarbenen Licht der Straßenlaternen von einem Ende zum anderen schlängelte. Sie hielt Ausschau, während Noj das Loch grub, in das sie alles legen mussten, wenn das letzte Wort des Fluchs gesprochen war.
Dort war die beste Stelle, hatte Noj erklärt, als er sie durch die Lücke in der Friedhofsmauer geführt hatte. Die alte Eibe war der mächtigste Schutz gegen das Böse weit und breit. Sie war älter als die christlichen Gräber um sie herum, hatte er ihr versichert, selbst älter als all die bröckelnden gotischen Engel und verwitterten Grabsteine. Und gleich, exakt einunddreißig Minuten und sieben Sekunden nach der vollen Stunde, würde der Vollmond aufgehen – dann war der günstigste Moment gekommen.
Noj grub unten im hohlen Stamm, während Corrine mit einem Auge nach Eindringlingen spähte und mit dem anderen auf die Stoppuhr achtete, die er ihr gegeben hatte. Für den Fluch war es sehr wichtig, dass das Kästchen exakt in der letzten Sekunde des ersten Viertels vergraben wurde und dass sie nicht gestört wurden, hatte er ihr erklärt.
»Noj«, sagte Corrine, »ist jetzt genau fünfundzwanzig nach.«
»Ausgezeichnet«, kam die Stimme von unten. »Alles ist vorbereitet. Wirf mir in genau drei Minuten die Uhr runter.«
*
»Weißt du was?«, sagte Darren, der die Nase ans Fenster gedrückt hatte, um besser sehen zu können. »Ich glaub, das ist Corrine.«
»Nein.« Debbie stand vom Bett auf. »Kann nicht sein.«
Sie wischte die Scheibe frei, wo sie von Darrens Atem beschlagen war, und schaute hinaus in die Nacht. Die Laternen auf der anderen Straßenseite warfen ein blasses Licht auf eine riesige alte Eibe.
»Ja, da sitzt jemand«, gab sie zu. »Ich kann aber nicht erkennen, wer es ist.«
»Moment.« Er öffnete den Verschluss und schob das Fenster hoch. »So besser?«
*
Noj hatte mit der Beschwörung begonnen und sprach in Worten, die Corrine nicht verstand. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, als würde ihr jemand kalte Luft in den Kragen hauchen. Sie starrte die Stoppuhr an. Noch eine Minute und fünfundvierzig Sekunden.
*
Debbie stützte sich auf der Fensterbank ab und lehnte sich hinaus. Die Nacht war eiskalt, und keine Wolke war am Himmel. Die Luft war so klar, dass sie mitten in der Dunkelheit einen weißen Fleck im Baum ausmachen konnte, ein Gesicht im Profil.
»Oh nein«, flüsterte sie. »Du hast recht. Das ist sie. Was macht sie denn da?«
*
»Fang«, sagte Corrine und ließ Noj die Uhr in die Hände fallen. Er fing sie geschickt auf, kniete sich unter den Baum und legte sie vor sich ins Gras, damit er die Zeit genau sehen konnte.
»Geh wieder nach London und lass uns in Frieden«, begann Noj den letzten Teil der Formel. »Geh wieder nach London und lass uns in Frieden.« Er hob den Hammer über das schwarze Bündel vor sich. »Geh wieder nach London und lass uns in Frieden.«
»Huuuuuuuu!«, rief Darren aus dem Fenster.
In genau diesem Moment schlug Noj dreimal mit dem Hammer auf die schwarze Kerze, um die mit schwarzem Faden Sams Haare und einige Brombeerblätter gewickelt waren.
Corrine erschrak. »Was war das?«, flüsterte sie und fuhr herum.
Noj war im Augenblick gefangen und hörte nichts. Zu starke Energien durchströmten ihn: Wie Quecksilber lief es ihm durch Arme und Brust, weitete ihm das Herz und erfüllte ihn mit einer übersinnlichen Zielstrebigkeit. Er legte den Hammer weg, hob das Bündel zum Mond und ließ es in das vorbereitete Loch fallen.
*
»Nicht!«, zischte Debbie und zog das Fenster wieder zu.
Corrine sah die Bewegung aus dem Augenwinkel. Auf der anderen Straßenseite hatte jemand ein Fenster geschlossen. Ihr Herz raste, und als sie sich umdrehte,
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