Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Opfer

Opfer

Titel: Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathi Unsworth
Vom Netzwerk:
schürfte sie sich die Finger an der Rinde auf.
    Sie waren beobachtet worden!
    »Was denn?« Darren war rot geworden. »War doch nur Spaß.«
    *
    Noj starrte die Zeiger der Uhr an und strich das letzte Bisschen Erde über das Bündel. Es kam ihm vor, als würden tausend Feuerwerke in ihm explodieren, er hatte noch nie eine solche Energie gespürt wie in diesem Moment, als er sekundengenau bei Vollmondaufgang eins mit Hekate wurde.
    Über seinem Kopf versetzte die nackte Angst Corrine einen eiskalten Stich in die Eingeweide.
    Sie waren beobachtet worden!
    Sie wusste gar nicht, wovor sie mehr Angst hatte. Davor, dass der Fluch gestört worden war, oder davor, dass Noj merkte, dass sie nicht gut genug gewacht hatte, dass sie sie beide im letzten, entscheidenden Moment enttäuscht hatte.
    Vielleicht , dachte sie hektisch, vielleicht hat er’s nicht gehört. Er hat ja auch nichts gesagt. Und wenn er’s nicht gemerkt hat, ist’s ja vielleicht gar nicht schlimm.
    Sie sah sich wieder nach dem Haus um. Gerade hatte dort jemand die Gardinen zugezogen.
    »Corrine!«, flüsterte Noj nachdrücklich. Er schaute zu ihr hoch, und sein strahlendes Lächeln wurde vom Mond erleuchtet. Er sah gar nicht mehr wie ein Junge aus, fand sie. Jeder, der ihn jetzt zum ersten Mal gesehen hätte, hätte ihn für ein Mädchen gehalten.
    Einen Augenblick war Corrine absolut glücklich und erleichtert, als sie ihn so sah.
    Er hat’s nicht gemerkt. Gott sei Dank … Nein, der Göttin sei Dank!
    Noj hob beide Arme und jubelte: »Es beginnt!«
    *
    »Ach komm, Debs, es tut mir ja leid!« Er ertrug den wütenden Blick seiner Freundin nicht. »Hab mir echt nichts dabei gedacht. Was ist denn, Debs?«
    So plötzlich, wie ihre Wut hochgekocht war, verzerrte sich ihr Gesicht, und sie fiel ihm schluchzend in die Arme. »Tut mir leid, Darren. Ist nicht wegen dir, sondern wegen Alex …«
    *
    Corrine kletterte schnell hinunter, ließ sich den letzten Meter fallen und landete weich neben Noj auf dem Boden.
    »Du warst toll, Corrine«, sagte er und drückte ihr die Hand. »Und jetzt weg hier.« Er lief den Weg entlang. Corrine wollte ihm folgen, zögerte aber und tat unwillkürlich das eine, was er ihr streng verboten hatte, weil sich der Zauber dann umkehren konnte.
    Sie sah sich um und schaute die alte Eibe an.
    *
    Corrine wachte auf, als eine Tür zuschlug. Nur das karamellgelbe Licht der Straßenlaterne trat unter den Vorhängen ihres schmalen Zimmers hervor.
    Die beiden Leuchtpunkte auf den Zeigern ihrer Micky-Maus-Uhr zeigten viertel vor vier. Sie hatte sich erst vor ein paar Stunden wieder hierhergeschlichen, nachdem sie anderthalb Wochen bei Noj untergekommen war. Ihre Mutter kam aber oft erst zu solchen Uhrzeiten nach Hause.
    Doch als sie den Kopf wieder aufs Kissen legte und die Decke hochzog, hörte sie ein Geräusch, das sie so noch nie gehört hatte.
    Ginas schwere Schritte auf der Treppe wurden von einem leisen Schniefen begleitet. Corrine setzte sich auf und horchte. Weinte sie?
    Hatte das vielleicht mit all den anderen Dingen zu tun, die sich verändert hatten? Als sie zu Hause angekommen war, hatte nirgends Licht gebrannt, und es standen auch keine Motorräder vor der Tür. Corrine konnte sich nicht erinnern, das Haus jemals leer vorgefunden zu haben, ob ihre Mutter nun da war oder nicht – normalerweise lagen immer mindestens drei von denen irgendwo in Cannabisschwaden gehüllt auf dem Sofa oder bauten auf dem Teppich im Vorderzimmer Motoren auseinander und hörten bei voller Lautstärke dröhnenden Metal.
    Psycho, Whiz und Scum … Wie sie ihre dämlichen Namenhasste, ihre aknezernarbten Gesichter und ihre zottigen Flaumbärtchen. Corrine hätte es zwar nicht in Worte fassen können, aber sie hatte instinktiv gewusst, dass das die kleinsten Nummern der schäbigen Outlaw-Bande waren. Sie hatten keine Chancen bei den Frauen, weil sie so grobschlächtig waren, also hausten sie hier und befolgten die Befehle der Älteren. Typen wie Rat, dem sich die ölig-schwarzen Haare den Rücken hinunterschlängelten. Mit seinen schmalen, brutalen Augen musterte er Corrine immer so wie eine Katze ein kleines Nagetier mustert. Und seine ölverschmierten Finger waren noch brutaler.
    Rat war der Chef. Rat war immer da …
    Nur heute nicht.
    Irgendwas ist passiert . Ein kleiner Funke Hoffnung glühte in Corrine auf, sie deckte sich auf und setzte vorsichtig einen Fuß auf den Nylonteppich. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür und öffnete sie einen Spalt

Weitere Kostenlose Bücher