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Opfer

Opfer

Titel: Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathi Unsworth
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wir alle Sie sehen können. Ja, danke.«
    Zufrieden wandte Mr Pearson sich wieder Samantha zu und hob über ihren Ohren die Haare an, die eigentlich verbergen sollten, was darunterlag.
    »Wie Sie sehen«, erklärte Mr Pearson, »haben wir es hier mit einer Glattrasur zu tun.« Er ging hinter den beiden vorbei und stellte sich neben den grinsenden Beinahe-Skin. »Mr Rowlands hier weiß dagegen genau, wie die Schulvorschriften lauten, nicht wahr, Shane?«
    »Ja, Sir«, erwiderte Rowlands wie ein Vorzeigestreber. Ihm gefiel das Spiel fast genauso gut wie allen anderen.
    »Und deshalb achtet er sehr genau darauf« – Mr Pearson fuhr dem Jungen mit der Hand über den Kopf – »dass seine Haare immer exakt zwölf Millimeter kurz geschnitten sind. Nicht wahr?«
    »Sir.« Rowlands wurde rot und strich sich die Stoppeln zurecht. Ein Kichern ging durch den Raum. Deborah Carver stimmte mit ein. Dale Smollet nicht.
    »Schauen Sie bitte mal, Miss Lamb«, sagte der Lehrer. »Ich möchte keinen Bereich Ihrer Haare kürzer sehen als das, was Mr Rowlands auf dem Kopf hat.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Ganz egal, wie kreativ Ihre neueste Frisur auch sein mag. Das heißt, Sie bleiben bitte bei mir, wenn es klingelt, und Sie kommen erst dann wieder zur Schule, wenn Ihre Haare die Länge von denen von Mr Rowlands hier erreicht haben. Verstanden?«
    Und wie bestellt schrillte die Klingel.
    *
    Als Edna behutsam den Telefonhörer ablegte, hatte sie das Gespräch mit ihrer Tochter noch nicht ganz verarbeitet. In letzter Zeit hatte sie sich viel besser mit Amanda verstanden, sogar an Wayne hatte sie Gefallen gefunden. Er war tatsächlich ein recht reifer, zuvorkommender junger Mann, und anfangs hatte er nur etwas distanziert gewirkt, weil er verständlicherweise ein bisschen schüchtern gewesen war. Aber darauf war sie wirklich nicht vorbereitet gewesen.
    Schon mit dem Ton, den Amanda angeschlagen hatte, kam sie nicht so recht klar – sie sprach mit ihr wie mit einer vertrauten Freundin.
    »Mum«, hatte sie gesagt, »es gibt Neuigkeiten. Setz dich lieber hin.«
    Edna hatte auf dem Stuhl neben dem Telefontischchen Platzgenommen. »Was …?«, hatte sie besorgt angefangen, und ihre Tochter hatte gekichert.
    »Gute Neuigkeiten, keine Angst. Tief durchatmen! Du wirst bald noch mal Oma!«
    Wäre Ednas Frisur nicht so perfekt festgesprayt gewesen, hätten ihr wohl die Haare zu Berge gestanden. »Oh«, sagte sie. »Oh, so was.«
    So viele Gefühle durchströmten sie, so viele Bilder tauchten aus den Tiefen ihres Gedächtnisses auf, dass Edna fast schwarz vor Augen wurde. »Bist du sicher?«, brachte sie schließlich hervor.
    Amanda lachte trillernd. »Ja, keine Sorge, ich hab die zwölfte Woche abgewartet, der Arzt ist zufrieden und bisher ist alles in Ordnung. Ich hab sogar aufgehört zu rauchen, was dich sicher freuen wird.« Amanda kreuzte bei den letzten Worten die Finger.
    »Ja, dann … Glückwunsch.« Edna gab sich alle Mühe, wie eine glückliche Großmutter zu klingen. »Wayne macht bestimmt schon das Kinderzimmer fertig, was?«
    »Noch nicht ganz«, erwiderte Amanda. »Wir wollen uns aber diese Woche ein paar Farbtafeln und Tapetenmuster besorgen. Vielleicht hast du ja Lust mitzukommen und mir ein bisschen zu helfen. Wir könnten uns ja in Norwich bei Bonds umschauen. Und hinterher gibt’s einen Cream Tea in Elm Hill, wenn wir schon mal da sind.«
    Bei ihrer letzten Fahrt in die Stadt, war ihr diese Freude genommen worden, also ging sie dankend auf das Friedensangebot ein. »Sehr gern.«
    »Eins noch«, setzte Amanda an. »Könntest du vielleicht« – sie zögerte – »Dad ein bisschen vorbereiten? Damit ihn die Neuigkeiten nicht zu sehr überrumpeln.«
    Die Frage und alles, was sie beinhaltete, hing eine lange Weile in der Luft.
    »Ich werd mir Mühe geben«, erwiderte Edna leise.
    »Danke, Mum.«
    Noch lange nach dem Ende des Gesprächs hörte Edna im Flur nur das Ticken der Pendeluhr und ihren eigenen schweren Atem. Als sie endlich aufstand, schaute sie in den Spiegel über dem Telefontischchen.
    Sie sah aus wie ein Gespenst.
    *
    Hoch oben im Turm über dem Leisure Beach saß Eric Hoyle an seinem Schreibtisch, die Stirn in tiefe Falten gelegt, in bläuliche Rauschschwaden gehüllt, die aus seinem überquellenden Aschenbecher aufstiegen. Die Zauberwelt unter ihm schlief in der Dunkelheit, das Osterwochenende und die Touristen kamen dieses Jahr erst spät. Nur die Lichter der Ölplattformen blinkten in der Ferne, aber die sah er

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