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Opfer

Opfer

Titel: Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathi Unsworth
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Sandra verstummte einen Augenblick und starrte ins Leere. Dann schüttelte sie den Kopf. »Als ich sie zum letzten Mal gesehen hab, wirkte sie wie eine Untote. Das war auch der letzte Tag, an dem sie überhaupt jemand sah.«
    Paul starrte seine Frau an. Das Gesicht, das er schon seit all den Jahren liebte, war ganz sanft geworden und zeigte echtes Mitleid.
    »An dem Tag kam Edna zu mir und ließ sich die Haare machen. Freitagnachmittag drei Uhr, wie immer. Sie wollte das volle Programm, obwohl unser letzter Termin noch gar nicht lange her war. Ich hab ewig dran gearbeitet, weil ich wusste, was sie durchgemacht hatte. Hab gedacht, ich könnte ihr das Leben ein klein bisschen schöner machen. An dem Tag hat sie mir ein Riesentrinkgeld gegeben, zehn Pfund, und gesagt, sie wüsste gar nicht, was sie jemals ohne mich hätte machen sollen. Sie wusste genau, was sie tat. Edna wollte bei ihrem Abgang so gut wie möglich aussehen. Und …« Tränen traten ihr in die Augen. »Ich hab das Geld nie ausgeben können, Paul. Essteckt immer noch in dem alten Portemonnaie oben in der Schublade. Einer von den alten Zehn-Pfund-Scheinen, das wären heute gut fünfzig.«
    Gray legte die Hand auf ihre, und diesmal scheute keiner von beiden den Kontakt. Sie verloren sich in Tagträumen von der Vergangenheit, von Edna Hoyles Beerdigung und dem Schock, dass diese große Dame Ernemouths sich umgebracht hatte. Die Erinnerungen lösten auch noch etwas anderes, was schon lange tief in Grays Gedächtnis vergraben lag.
    »Warum hast du es mir nicht erzählt?«, fragte er.
    »Du hattest doch schon genug um die Ohren«, erwiderte sie. »Aber jetzt erzähl ich es dir. Geheimnisse können einen umbringen, Paul, das hab ich bei Edna mit eigenen Augen gesehen. Und was auch immer Len Rivett meint, das er gegen dich in der Hand hat, ist nichts wert – wenn du es mir einfach sagst.«

26
    KRIEGSTANZ
    März 1984
    »Samantha Lamb.« Mr Pearsons eisblaue Augen sahen vom Klassenbuch auf.
    »Hier«, kam die halblaute Antwort.
    Sie schaute nicht auf, und als der Klassenlehrer sie ansah, verstand er auch, warum. Er ging die restliche Liste durch und versuchte, sich einen Eindruck von der Atmosphäre an diesem Montagmorgen zu machen. Besonders achtete er auf die beiden Spannungsfelder, die seit September immer schlimmer geworden waren.
    Miss Carver und Miss Lamb hatten anscheinend beide sehr ermüdende Wochenenden hinter sich. Ihre dunklen Augenringe waren nicht nur dem Make-up zuzuschreiben. Dale Smollet lehnte auf seinem Stuhl und starrte mit zusammengepressten Lippen und vorgeschobenem Kinn an die Decke. Smollet hatte anscheinend beschlossen, die Uniformregeln nicht mehr ganz so liberal auszulegen und distanzierte sich auch physisch von seinen früheren besten Freunden in der Reihe hinter ihm. Beschwerden über Smollet waren in diesem Halbjahr deutlich zurückgegangen, und seine Noten hatten sich außerordentlich verbessert.
    Das Gleiche konnte man von Reeder und Rowlands nicht sagen. Ersterer war knallrot und kämpfte gegen den Drang an, laut loszuprusten.
    Mr Pearson schloss das Klassenbuch und stellte sich vor sein Pult. »Stehen Sie bitte mal auf, Miss Lamb«, sagte er.
    »Was?« Samantha sah sich verwirrt um, als wäre plötzlichnoch eine andere Miss Lamb aufgetaucht. Sie bekam rote Wangen.
    »Sie sind gemeint, Samantha.« Mr Pearson nickte. »Stehen Sie auf, damit ich Sie sehen kann.«
    Samantha verzog das Gesicht, stand auf, hielt aber den Kopf gesenkt.
    »Kopf hoch!«, bellte Mr Pearson. Samantha gehorchte unwillkürlich.
    Der Lehrer ließ seinen kritischen Blick noch ein paar Sekunden auf ihr ruhen, während im Raum die Spannung in Erwartung eines anständigen Anschisses wuchs.
    »Kommen Sie mal nach vorne, Miss Lamb, damit die anderen Sie sehen können.«
    Die Wut flackerte in ihren Augen, aber mit hochrotem Kopf befolgte sie den Befehl.
    »So, Mr Rowlands.« Mr Pearson schaute den grinsenden Stoppelkopf in der letzten Reihe an, der etwas vom Butler der Addams-Family hatte. »Sie kommen jetzt bitte auch mal her.«
    Rowlands zeigte sich mit dem Finger auf die Brust und gab sich theatralisch erstaunt.
    »Ich brauche Ihre Hilfe bei einer kleinen Demonstration«, erklärte Mr Pearson.
    Froh, dass er ausnahmsweise keinen Ärger bekam, stand Rowlands auf und warf Smollet im Vorbeigehen einen sarkastischen Blick zu. Der starrte böse zurück, während auch ihm die Röte den Hals hochkroch.
    »Wenn Sie sich jetzt bitte neben Miss Lamb stellen würden, damit

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