Opfer
Kräuterdüfte lagen in der Luft.
Ihre Hände lagen auf einer Kristallkugel, und sie konzentrierte sich mit geschlossenen Augen auf ein Gesicht. Seltsamerweise dauerte es eine Weile, bis sich die Konturen des Kopfes, den sie doch eigentlich so gut kannte, klar abzeichneten. Als würde die Person sich vor ihr verstecken wollen.
Doch dann war sie plötzlich da.
Noj hob die Hände, öffnete die Augen und starrte tief in die Kugel.
*
Mit lautem Scheppern schoss die Katze durch die Klappe in der Haustür, rannte mit gesträubtem Fell in die Küche und fauchte. Sheila sah durchs Fenster und hörte Autoreifen über den Feldweg knirschen. Sie horchte in die Nacht und sah ihre Katze an, die einen Buckel machte, mit gebleckten Zähnen leise maunzte und die Tür anstarrte.
»Das hatten wir befürchtet, oder, Minnie?«, sagte Sheila. Sie stellte die Tasse ab, ging in die Waschküche und nahm die geölte, geladene Flinte vom Ständer.
*
»Kommen Sie rein«, hörte er Smollets Stimme durch die Bürotür.
Sean trat ein und wunderte sich, dass der DCI alleine war.
»Sind die Ergebnisse von der Spurensicherung noch nicht da?«, fragte er.
Smollet reichte ihm die Akten, die vor ihm gelegen hatten.
»Doch, Ben ist fertig«, erklärte er. »Ich hab ihn schon wieder weggeschickt. Sehen Sie sich den Bericht an, steht nicht viel mehr drin als das, was er heute Morgen gesagt hat – seine so genannte Hexe war so ordentlich, dass sie uns nicht mal Fingerabdrücke hinterlassen hat. Wahrscheinlich haben Hexen nicht mal welche, was?«
Sean setzte sich auf den Stuhl gegenüber und überflog den Bericht. Smollet hatte recht.
»Das Ganze war wohl nichts als eine falsche Fährte«, setzte der DCI fort.
»Sie wollen der Sache nicht weiter nachgehen?«, fragte Sean und sah ihn an.
»Sollte ich das denn?« Smollet zog die schwarzen Augenbrauen hoch.
Sean schüttelte den Kopf und wiederholte, was er auch schon gegenüber Rivett vertreten hatte. »Tja, eigentlich wurde hier ja kein Verbrechen verübt. Höchstens eins gegen Pietät und Anstand.«
»Genau meine Meinung«, erwiderte Smollet.
Die Augen des DCI waren so undurchsichtig, als würde er eine verspiegelte Sonnenbrille tragen.
»Worüber wollten Sie denn noch mit mir sprechen?« Smollet lächelte ermunternd.
»Mich stören zwei Dinge«, setzte Sean an. »Erstens: Würde ich eine amtliche Ermittlung führen, müsste ich sagen, dass Len Rivett dem alten Fall viel zu nahesteht. Er versucht, mich zu lenken, anstatt mir zu helfen. Außerdem glaubt er anscheinend, dass er auch nach seiner Pensionierung noch der Chef hier ist.«
Smollet kniff die Augen zusammen. »Nein. Das ist ganz und gar nicht der Fall. Ich …«
»Und zweitens«, fiel Sean ihm ins Wort, »haben Sie mir verschwiegen, dass Sie mit Corrine Woodrow in einer Klasse waren. Vielleicht läuft hier einiges anders als da, wo ich herkomme, aber ich an Ihrer Stelle hätte gleich am Anfang darauf hingewiesen. Schließlich« – er lächelte – »haben Sie ja nichts zu verbergen, wie Sie selbst sagen.«
*
Francesca legte auf und fragte sich, was sie tun sollte. Auf dem Parkplatz vor der Redaktion fasste sie einen Entschluss und rief ihren Vater an, während sie zu ihrem hellroten Micra ging.
»Dad«, sagte sie. »Es wird heute doch ein bisschen später. Kannst du mir einen Gefallen tun? Ross faxt mir heute Abend ein paar Seiten. Kannst du dir die bitte ansehen, falls ich dann noch nicht da bin? Ja, sehr wichtig. Und rufst du dann bitte diese Nummer an?« Sie rasselte die Ziffern aus dem Gedächtnis runter. »Das ist die Nummer von einem Sean Ward. Erzähl dem bitte, was drinsteht. Ich weiß, das muss aber sein.« Sie lachte verlegen. »Ja, und wenn’s um die Arbeit geht, vertrau ich Ross auch. Der ist mir was schuldig, das weißt du doch. Und du musst mir hier bitte auch vertrauen, Dad. Erzähl Sean Wortfür Wort, was im Fax steht. Ja. Danke. Hab dich lieb, Dad. Bis bald.«
Francesca schloss den Wagen auf und zögerte kurz, bevor sie einstieg.
Nein, wenn Smollet jetzt Zeit für ein Interview hatte, dann musste sie zuerst dorthin. Darum hatte Sean sie gebeten.
Sie ließ sich auf den Fahrersitz rutschen, startete den Motor und fuhr Richtung Meer.
*
»Was?«, sagte Smollet. »Das stand nicht in Ihren ganzen Akten? Ich hätte gedacht, Ihre Auftraggeberin hätte Sie darüber informiert, bevor sie Sie hierher geschickt hat. Da hätten Sie sich eine Menge unnötige Arbeit sparen können.« Er streckte seine perfekt
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