Opfer
und Spielplatz vorgesehen gewesen, als die Siedlung in den Sechzigern hochgezogen wurde, war jetzt aber zu einer Müllkippe verkommen. Matschiger Boden, Gebüsch, alte Kühlschränke, Stoßstangen und das Gerippe eines ausgebrannten Motorrollers. Nicht zum ersten Mal wunderte Rivett sich darüber, wie das Gesocks es schaffte, seine Gerätschaften so gedankenlos wegzuwerfen, wo es doch mit den wöchentlichen Schecks vom Sozialamt auskommen musste. Hundegebell und das noch lautere Gekeife einer Frau lenkten seine Aufmerksamkeit wieder zurück auf den ersten Stock.
Wie bestellt wurde ein Fenster geöffnet. Wolf steckte den zerzausten Kopf hinaus und bewertete ein paar Sekunden lang den Abstieg. Rivett hatte sich hinter dem nächsten Kühlschrank versteckt und beobachtete, wie der Kopf wieder verschwand und kurz darauf von einem Arsch in Leder ersetzt wurde. Wolf schob sich durchs Fenster und ließ sich so weit wie möglich hinabhängen, bis es nur noch ein bisschen über einen Meter bis zum Boden war.
Zum Geschrei der Wölfin kam noch ein Knallen und Krachen dazu, auf die ein empörter Männerschrei folgte. Einer von Rivetts Untergebenen brauchte wohl Hilfe. In den Fenstern der Siedlung gingen die Lampen an und beleuchteten Wolfs Absprung. Er ließ los und wankte nur leicht, als er landete. Wahrscheinlich hatte er schon viel Übung bei Fluchten wie dieser.
Zufrieden, dass er noch ganz war, drehte der Biker sich in Richtung Motorrad um. Bei all dem Lärm in der Wohnung hatte er aber nicht gehört, wie Rivett sich angeschlichen hatte. Er spürte etwas Kaltes im Nacken und hörte es metallisch klicken.
»Das war beeindruckend«, sagte Rivett. »Kann deinen nächsten Trick gar nicht abwarten.«
Viele Gedanken jagten Wolf gleichzeitig durchs Hirn, davon waren zwei am deutlichsten: Ich hab ’ne Pistole im Nacken und Bullen tragen doch keine Pistolen .
Aus seinem Mund kam aber nur ein ersticktes: »Waaaas?!«
»Ich hab ’ne Idee«, zischte die Stimme ihm ins Ohr. »Wirfahren ein Rennen, okay? Mal gucken, was du wirklich draufhast. Mann gegen Junge. Los, schnapp dir deine Maschine und verpiss dich. Ich jag dich.«
Wolf stolperte auf sein Motorrad zu und rechnete damit, jeden Moment als Zielscheibe benutzt zu werden. Er wühlte in der Jackentasche nach dem Schlüssel, ließ ihn fallen und trat ihn aus Versehen unter die Räder. Als er ihn wieder aufgehoben, sich in den Sattel geschwungen und den Motor gestartet hatte, saß der Bulle – oder was auch immer er war – schon am Lenkrad seines schwarzen Rovers und grinste ihn an.
Die Scheinwerfer des Wagens strahlten ihn an, als Wolfs Ofen vom Parkplatz raste.
Während er links auf die South Denes Road einbog, weg von der Stadt und in Richtung Docks, wo er auf weniger Ampeln und Verkehr achten musste, fiel Wolf wieder ein, was Rat ihm durch die Zellenstäbe erzählt hatte.
Finger weg von Gina, die steht unter Schutz. Verkauf einfach den Stoff und geh ihr aus dem Weg. Sonst holt er dich auch .
Aber Wolf war sich sicher gewesen, dass Rat sich mit der dunkeläugigen Schlampe das Hirn zu Brei gevögelt hatte. Er hätte nie im Leben geglaubt, dass es irgendeinen Bullen interessieren würde, wenn er ihr zeigte, was Sache war. Das war doch lange überfällig. Frauen sollten hier nicht die Zügel in der Hand haben. Das war Männerarbeit.
Er raste an den wuchtigen Containerschiffen vorbei, die am Kai lagen. Über den Himmel hatte sich das tiefe Tintenblau gelegt, das den Morgen ankündigte, und Wolf und sein Verfolger hatten eine Reihe roter Ampeln überfahren können, ohne dass ihnen jemand in die Quere gekommen war.
Der Bulle schaltete nicht mal seine Sirene ein. Jedes Mal, wenn Wolf sich nach ihm umsah, hatte er denselben amüsierten Gesichtsausdruck, hielt den Ellenbogen lässig aus dem Fenster wie beim Sonntagsausflug, die Pistole immer noch in der Hand. Wieder fragte der Biker sich, ob er es wirklich mit einem echten Bullen zu tun hatte.
Lagerhallen rauschten vorbei, die Straße bog nach links. Sie waren jetzt am Hafen vorbei, und als Wolf die Kurve nahm, sah er den brennenden Rand der Sonne über das dunkle Meer schimmern. Er schaute in den Spiegel – der Rover kam näher.
Wolf gab Vollgas. Adrenalin und Angst wirkten in seinen Adern wie ein Schlangenbiss. Das Motorrad erreichte seine Höchstgeschwindigkeit, aber die Stoßstange des Rovers näherte sich immer weiter seinem hinteren Schutzblech. Sein Leben lang hatte er nur nach vorn geschaut, aber jetzt zog das
Weitere Kostenlose Bücher