Opfer
gepflegten Hände vor sich aus.
Sean schwieg, also sprach Smollet weiter. »Nein, ich habe mich bisher nur aus der Sache herausgehalten, damit Sie keinen Interessenkonflikt befürchten müssen. Ich darf die Unabhängigkeit Ihrer Ermittlung doch wohl nicht stören. Aber wenn Sie mich fragen, erzähle ich Ihnen gerne alles. Ich war so mit fünfzehn, sechzehn mit Corrine in einer Klasse. Wir haben aber nur jeden Morgen gut zehn Minuten in einem Klassenraum gesessen und hatten sonst keine Kurse zusammen, und nach der Schule hatte ich auch nichts mit ihr zu tun. Mit so einer wollte sich keiner von uns einlassen. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.«
»Das sehe ich anders«, erwiderte Sean. »Die Phantom-DNA aus dem Bunker könnte zu jedem von Corrines Schulkameraden gehören. Was würden Sie sagen, wenn ich Sie um eine Probe bitte?«
Smollet grinste unwillkürlich. »Sie machen es sich aber schwer«, sagte er. »Sie hätten mich auch einfach fragen können.«
Sean grinste zurück. »Das heißt, als Len Rivett mir erzählthat, dass Sie damals noch ein kleiner Junge waren, war das nur so eine Floskel, ja? Vielleicht eine regionale Redensart, die ich noch nicht kenne?«
»Möglicherweise«, erwiderte Smollet, der noch breiter grinste, und dessen perfekte weiße Zähne ihm eine Politiker-Ausstrahlung verliehen. »Der hält mich immer für jünger, als ich wirklich bin.« Er schüttelte den Kopf und gab sich verständnisvoll.
»Hören Sie«, setzte er fort. »Ich weiß ja, dass er sich manchmal aufführt, als wäre er nie in Pension gegangen. Das gehört bei ihm einfach dazu, aber glauben Sie ja nicht, dass mir das nicht manchmal auf die Nerven geht. Es ist ihm schwergefallen, den Job aufzugeben, und er nimmt es mir ganz offensichtlich übel, dass ich hier sitze und nicht er. Aber ich habe wirklich geglaubt, er könnte Ihnen weiterhelfen. Niemand kennt die Einzelheiten des Falls so gut wie er, und keiner stöbert so zielsicher in dieser Stadt Leute auf wie Len, auch ich nicht. Aber« – er drehte die Handflächen nach oben – »Sie sollen nicht den Eindruck haben, dass es bei mir für irgendwen eine Extrawurst gibt. Wenn Sie ihm nicht trauen, ziehe ich ihn sofort ab. Und ab morgen steht Ihnen einer meiner besten Polizisten zur Seite.« Er schaute auf seine Armbanduhr, einen dicken Klumpen Platin und Gold. »Und in der nächsten Stunde stehe ich Ihnen gern Rede und Antwort zu allen meinen alten Klassenkameraden. Um halb acht muss ich leider los, weil ich einen Termin habe, aber wir können gerne morgen weitermachen. Ist Ihnen das recht?«
Sean zog die Augenbrauen hoch. »Sicher«, sagte er und holte sein Diktaphon heraus.
*
Francesca fuhr auf den Parkplatz vor dem Säulenvorbau der Fassade aus Flintstein und Stuck der viktorianischen Villa. Als sie hinaufschaute, lief es ihr kalt den Rücken herunter. ZumGlück wusste ihr Vater nicht, dass sie dieses Gebäude betrat, auch wenn sie ihre Gründe hatte. Sie berührte unbewusst das Amulett um ihren Hals, das ihr Cousin Keri ihr geschenkt hatte. Heute hatte sie das Gefühl gehabt, es tragen zu müssen. Ein blaues Auge, in Silber eingefasst.
Sie holte das Handy heraus und wählte Seans Nummer. Sofort meldete sich die Mailbox und sie hinterließ eine Nachricht.
»Der Affe hat sich freundlicherweise zu einem Treffen heute Abend bereiterklärt – ich gehe gerade zum Interview. Müsste halb acht, spätestens acht fertig sein. Du hattest ja selber noch einen Termin, aber ruf mich an, wenn du so weit bist, ja? Vielleicht ruft dich auch mein Vater an. Ich hab ihm gesagt, er soll sich bei dir melden, falls die Akten reinkommen, bevor ich da bin. Ich hoffe, das war okay. Bis später.«
Sie schaute noch einmal in ihre Aktentasche, ob sie auch alles dabeihatte, und stieg aus. Vor dem Eingang zögerte sie. Die Wolken hatten sich gelichtet, und über ihr stand tief der fette Mond.
Sie berührte noch einmal das Amulett und flüsterte: » Ola dika sou matia mou «. Das war eine Liedzeile aus ihrer Kindheit, die sie an Seans traurige, braune Augen erinnerte.
Dann ging sie hinein.
*
Noj schreckte von der Kristallkugel zurück. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
»Nein«, sagte sie. »Nein, das kann ich nicht glauben.«
Sie riss sich zusammen und schickte die Vision dorthin zurück, wo sie hergekommen war. Die Kugel wurde milchig, das Bild einer Villa am Ufer verschwand im Nebel.
»Danke«, sagte Noj, senkte den Kopf, und legte die Kugel vorsichtig wieder an ihren Platz. Mit
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