Opfer
rasendem Puls rannte sie die Treppe hinunter zum Telefon und wählte hastig Seans Nummer, die auf der Visitenkarte neben dem Apparat stand.
Die Mailbox ging dran.
»Sean«, kreischte sie, »rufen Sie mich sofort zurück. Sie sind in größerer Gefahr, als ich gedacht hatte. Ich versuche, Sie zu finden. Aber gehen Sie auf keinen Fall mit den beiden Bullen irgendwohin!«
Sie legte auf und drückte eine Direktwahltaste. »Joe«, sagte sie. »Wo ist er, und wer ist bei ihm?«
Der Ire stand gegenüber der Freimaurerloge. »In der Villa seiner Ahnen. Die Journalistin ist gerade dazugekommen, aber von Mr Ward noch keine Spur.«
Noj versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. »Okay. Bleib bei den beiden. Ich suche Sean.«
»Alles klar«, erwiderte Joe.
*
»Ich bin mit DCI Smollet verabredet.« Francesca schenkte dem adretten kleinen Mann an der Rezeption ihr schönstes Lächeln. »Mein Name ist Francesca Ryman.«
»Ja, natürlich, Madam.« Er senkte höflich den Kopf. »Wenn Sie mir bitte folgen würden.«
Francescas Absätze hallten laut von den Holzvertäfelungen wider, als sie einen gefliesten Gang voller viktorianischer Porträts von Männern mit Backenbärten entlanggingen. Irgendwo im Halbdunkel klimperte ein Klavier.
»Wir sind da, Madam.« Der Mann öffnete eine Tür und bat sie hinein.
Francesca stand am Eingang eines weiteren holzvertäfelten Raums mit bodenlangen roten Samtvorhängen vor den Fenstern. Vor ihr war ein Tisch zum Abendessen für zwei gedeckt, eins der Gläser war halbvoll mit Rotwein, die offene Flasche stand daneben.
Aber beide Stühle waren leer.
Francesca runzelte die Stirn und drehte sich um. »Sind Sie sicher …«, fing sie an.
Aber der kleine adrette Mann schloss schon die Tür und dahinter kam eine große, breite Gestalt mit Lammfellmantel und schwarzem Trilby mit Feder zum Vorschein.
»Sie wissen, wer ich bin, oder, Mädchen?«
30
ANTIAUTORITÄT
April 1984
»Ich will da aber nicht mehr hin! Du weißt ja nicht, wie es da ist!«
Samantha saß mit geballten Fäusten auf dem Bett. Amanda nahm an, dass ihr Gesicht weniger vom Weinen so rot war als vielmehr davon, wie lange sie ihren Wutanfall schon ausgedehnt hatte.
Als sie sich neben Sam aufs Bett setzte, drehte die sofort den Kopf weg.
»Sam, hör zu«, sagte Amanda ruhig, legte ihrer Tochter die Hand ans Kinn und drehte sie zu sich herum. »Du musst irgendwann mal lernen, dass das Leben nicht immer fair ist und dass du nicht immer kriegst, was du willst. Wenn du einen Fehler machst, musst du mit den Konsequenzen leben und daraus lernen.«
»Was?« Sam schaute Amanda auf den Bauch. »So wie du?«
»Ja«, Amanda lächelte so freundlich, wie es ging. »Wie ich. Ich weiß, dass du meinst, du hättest viele gute Gründe, sauer auf mich zu sein. Du wirst es mir nicht glauben, aber ich weiß, wie das ist. Und ich kann dir versprechen, dass dir das alles in ein paar Monaten überhaupt nicht mehr wichtig sein wird. Du musst bloß tapfer sein. Und ich weiß, dass du nicht feige bist, oder, Sam?«
Samantha starrte ihre Mutter an, als müsste sie eine Fangfrage beantworten.
»Nein«, antwortete Amanda für sie. »Du bist ein schönes, intelligentes, begabtes Mädchen, und ich weiß, dass du es mit jedem aufnehmen kannst.«
Sie strich Sam eine Strähne aus den Augen. Als die Haare etwas nachgewachsen waren, hatte Ednas Friseurin Sandra aus den Stacheln und rasierten Seiten wieder etwas Vorzeigbares gemacht.
»Du musst doch nur ohne großes Drama bis zum Ende des Schuljahrs durchhalten«, erklärte Amanda. »Dann kannst du aufs Art College oder aufs Sixth-Form-College oder wohin immer dein Verstand dich führt. Dir stehen alle Möglichkeiten offen, da musst du dir keine Sorgen machen.«
Samantha schaute zu Boden, wandte sich aber nicht ab. Sie knetete die Bettdecke und biss sich auf die Unterlippe. Schließlich sah sie wieder auf. »Hast recht«, sagte sie. »Ich bin nicht feige.«
»Gut.« Amanda hoffte, dass ihr Lächeln nicht allzu erleichtert wirkte. »Das wollte ich hören.« Sie drückte ihrer Tochter die Schulter und stand auf. »Okay, ich mach’ uns Spaghetti Bolognese zum Abendessen, und dann gehen wir ins Kino. Du kannst dir aussuchen, was wir schauen.«
Beides war für einen Sonntagabend eine große Ausnahme.
Als Sam ihr Lächeln erwiderte, erinnerte Amanda sich einen kurzen Augenblick daran, wie sie als Kind ausgesehen hatte – süß, brav, unschuldig.
Sie sah nicht, wie sich ihr Gesichtsausdruck änderte,
Weitere Kostenlose Bücher