Opferlämmer
spüre ohnehin so gut wie nichts«, sagte Rhyme.
»Ich …« Logan fühlte sich, als sei ihm ein peinlicher Fauxpas unterlaufen. »Ich bitte um Entschuldigung. Ich habe nicht nachgedacht.«
Ein zögerliches Nicken. »Der Gefallen hat mit Amelia zu tun.«
»Sachs?«
»Es gibt keinen Grund, ihr ein Leid zuzufügen.«
Logan hatte bereits mit dem Gedanken gespielt und eine Entscheidung gefällt. »Das habe ich auch nicht vor. Sie hat sicherlich genug Elan, um nach mir zu suchen. Und die nötige Hartnäckigkeit. Aber sie ist mir nicht gewachsen. Ihr wird nichts geschehen.«
Rhyme lächelte. »Danke … äh … Richard. Sie heißen doch Richard Logan, nicht wahr? Oder ist das ein falscher Name?«
»Nein, so heiße ich wirklich.« Logan schaute erneut auf den Monitor. Der Gehweg vor dem Haus war leer. Keine Polizei. Keiner von Rhymes Mitarbeitern, der zurückkehrte. Er und der Kriminalist waren ganz allein. Es wurde Zeit. »Sie sind bemerkenswert ruhig.«
»Wieso auch nicht?«, erwiderte Rhyme. »Ich lebe schon seit Jahren auf Messers Schneide. Jeden Morgen bin ich ein wenig erstaunt, dass ich aufwache.«
Logan griff in seine Werkzeugtasche und warf ein aufgerolltes Stück Kabel mit Randall Jessens Fingerabdrücken auf den Boden. Dann öffnete er eine kleine Tüte und drehte sie um. Einige von Randalls Haaren fielen heraus. Mit einem der Schuhe des Bruders hinterließ er einen Abdruck in dem verschütteten Wasser. Dann fügte er noch mehrere von Andi Jessens blonden Haaren hinzu sowie einige Fasern ihrer Kleidung, die er aus dem Schrank in ihrem Büro entnommen hatte.
Er blickte auf und überprüfte ein weiteres Mal die elektrischen Verbindungen. Warum zögerte er? Vielleicht weil Rhymes Tod
für ihn das Ende einer Ära bedeutete. Den Kriminalisten auszuschalten würde eine ungeheure Erleichterung sein. Doch es war auch ein Verlust, der ihn von nun an begleiten würde. Logan nahm an, dass er gerade das Gleiche empfand wie jemand, der die Entscheidung traf, bei einem nahen Angehörigen im Krankenhaus die lebenserhaltenden Apparate abschalten zu lassen.
Ich wollte in Ihre Nähe gelangen …
Er nahm die Fernbedienung aus der Tasche und entfernte sich von dem Rollstuhl.
Lincoln Rhyme musterte ihn ruhig und seufzte. »Ich schätze, das war’s dann wohl«, sagte er.
Logan stutzte und sah Rhyme an. Der Tonfall des Kriminalisten hatte sich bei diesen letzten Worten merklich verändert. Seine Miene auch. Und die Augen … die Augen waren plötzlich die eines Raubtiers.
Richard Logan erschauderte, denn ihm wurde schlagartig klar, dass dieser Satz, der so seltsam geklungen hatte, gar nicht für ihn gedacht war.
Es war eine Botschaft. An jemand anders.
»Was haben Sie getan?«, flüsterte Logan. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Er schaute zu dem kleinen Computerbildschirm. Nichts deutete darauf hin, dass jemand sich dem Haus näherte.
Es sei denn … Es sei denn, er befand sich längst hier.
O nein…
Logan starrte Rhyme an und betätigte die beiden Knöpfe der Fernbedienung.
Nichts geschah.
»Sobald Sie hier oben waren, hat einer unserer Beamten den Schalter entfernt«, teilte Rhyme ihm nüchtern mit.
»Nein«, keuchte Logan.
Der Boden hinter ihm knarrte. Er wirbelte herum.
»Richard Logan, keine Bewegung!« Es war die Polizistin, von
der sie eben noch gesprochen hatten. Amelia Sachs. »Ich will Ihre Hände sehen. Falls Sie auch nur mit dem Finger zucken, sind Sie tot.«
Hinter ihr standen zwei Männer. Einer war Detective Lon Sellitto, an den Logan sich noch gut erinnern konnte. Der andere Mann war dünner und in Hemdsärmeln. Er trug eine Brille mit schwarzem Gestell.
Alle drei Beamten hatten Waffen auf ihn gerichtet.
Aber Logan behielt in erster Linie Amelia Sachs im Blick, die am eifrigsten auf eine Gelegenheit zum Schuss zu lauern schien. Er erkannte, dass Rhyme die Frau zur Sprache gebracht hatte, um seinen Leuten ein Zeichen zu geben und die Falle zuschnappen zu lassen.
Ich schätze, das war’s dann wohl…
Demnach hatte die Frau auch gehört, dass Logan nicht viel von ihren Fähigkeiten hielt.
Doch als sie nun vortrat, um ihm Handschellen anzulegen, tat sie das überaus professionell, nahezu sanft. Dann drückte sie ihn zu Boden, aber auch dies alles andere als grob.
Sellitto trat vor und griff nach den Kabeln, die um Rhymes Arme gewickelt waren.
»Zieh bitte Handschuhe an«, sagte der Kriminalist ruhig.
Der massige Cop zögerte. Dann streifte er Latexhandschuhe über, entfernte die Kabel
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