Opferlämmer
nachzuholen. Der junge Beamte tat ihm den Gefallen.
»Das ist aber kein Doppelter«, murmelte Rhyme. Pulaski schien ihn nicht zu hören. Er war zum Fenster gegangen und schaute nach draußen.
Wird das hier die Schlüsselszene in einem zähen britischen Drama?, dachte Rhyme und trank einen Schluck durch den Strohhalm.
»Ich habe gewissermaßen eine Entscheidung getroffen. Sie sollten es als Erster erfahren.«
»Gewissermaßen?«, tadelte Rhyme mal wieder.
»Ich meine, ich habe eine Entscheidung getroffen.«
Rhyme zog eine Augenbraue hoch. Er wollte nicht zu ermutigend
wirken. Was kommt als Nächstes?, fragte er sich, obwohl er bereits eine Ahnung zu haben glaubte. Sein Leben mochte der Wissenschaft gewidmet sein, aber er war im Laufe seiner Karriere auch Vorgesetzter von Hunderten von Angestellten und Beamten gewesen. Und trotz seiner Ungeduld, seiner Barschheit und seiner Temperamentsausbrüche hatte er sich stets bemüht, ein verständiger und fairer Chef zu sein.
Solange man keinen Mist baute.
»Raus damit, Grünschnabel.«
»Ich höre auf.«
»Womit?«
»Bei der Polizei.«
»Ah.«
Seit der Bekanntschaft mit Kathryn Dance achtete Rhyme auf die Körpersprache. Er spürte, dass Pulaski diese Sätze vorher geübt hatte. Viele Male.
Der Cop fuhr sich mit der Hand durch das kurze blonde Haar. »William Brent.«
»Dellrays Informant?«
»Richtig, ja, Sir.«
Rhyme zog kurz in Erwägung, den jungen Mann mal wieder daran zu erinnern, dass er auf eine so förmliche Anrede keinen Wert legte. Doch er sagte nur: »Reden Sie weiter, Pulaski.«
Mit verbissener Miene und gequältem Blick setzte Pulaski sich auf den Rohrstuhl neben Rhymes TDX. »Ich hatte bei Galts Wohnung schreckliche Angst und bin in Panik geraten. Ich habe nicht vernünftig nachgedacht … ich habe die meisten Verhaltensmaßregeln einfach vergessen.« Und wie als Zusammenfassung fügte er hinzu: »Ich habe es versäumt, die Situation korrekt einzuschätzen und mein Verhalten entsprechend anzupassen.«
Wie ein Schuljunge, der sich bei einem Test nicht sicher war und einfach schnell alle möglichen Antworten herunterrasselte, um hoffentlich auch die richtige zu erwischen.
»Er ist aus dem Koma aufgewacht.«
»Aber er hätte sterben können.«
»Und deshalb quittieren Sie den Dienst?«
»Ich habe einen Fehler begangen. Dieser Fehler hat beinahe ein Menschenleben gekostet … Ich glaube nicht, dass ich meine Aufgaben noch angemessen erfüllen kann.«
Herrje, woher hatte er bloß diesen Text?
»Es war ein Unfall, Grünschnabel.«
»Der nicht hätte passieren dürfen.«
»Gibt es denn noch andere Arten von Unfällen?«
»Sie wissen, was ich meine, Lincoln. Ich habe gründlich darüber nachgedacht.«
»Ich kann beweisen, dass Sie bleiben müssen und dass eine Kündigung ein Fehler wäre.«
»Wie denn? Indem Sie mir sagen, dass ich begabt bin und viel beisteuern kann?« Pulaski schaute skeptisch drein. Er war noch jung, wirkte aber deutlich älter als bei ihrem ersten Zusammentreffen. Die Arbeit als Polizist forderte ihren Tribut.
Die Arbeit in meinem Team ebenfalls, dachte Lincoln Rhyme.
»Wissen Sie, warum Sie nicht aufhören können? Sie wären ein Heuchler.«
Pulaski sah ihn ungläubig an.
»Sie haben Ihre Gelegenheit verpasst«, fuhr Rhyme fort, mit etwas mehr Schärfe in der Stimme.
»Was soll das heißen?«
»Okay, Sie haben Mist gebaut, und jemand wurde schwer verletzt. Aber als es zwischendurch so aussah, als wäre Brent ein per Haftbefehl gesuchter Straftäter, dachten Sie, Sie hätten noch mal Glück gehabt, richtig?«
»Nun … ja, kann sein.«
»Auf einmal war es Ihnen egal, dass Sie ihn angefahren hatten. Als wäre er, was, weniger menschlich?«
»Nein, ich habe bloß …«
»Lassen Sie mich ausreden. Unmittelbar nach dem Unfall mussten Sie eine Entscheidung treffen: Sie hätten entweder zu dem Schluss kommen müssen, dass das Risiko von Kollateralschäden und Unfällen für Sie untragbar ist, und sofort den Dienst quittieren müssen. Oder Sie hätten die Angelegenheit akzeptieren und lernen müssen, mit dem Geschehenen zu leben. Es bedeutet keinen Unterschied, ob der Kerl ein Serienkiller oder ein Diakon auf dem Weg zur Kirche war. Und es ist intellektuell unaufrichtig von Ihnen, jetzt darüber zu jammern.«
Die Augen des Neulings verengten sich vor Wut, und er wollte zu irgendeiner Rechtfertigung ansetzen, aber Rhyme war noch nicht fertig. »Sie haben einen Fehler gemacht. Sie haben kein Verbrechen begangen…
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