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Opferlämmer

Opferlämmer

Titel: Opferlämmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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die Verbrennung.
    Er dachte an das Vibrieren der Maschine unter seiner Hand, als seine Hand ein Vibrieren noch hatte spüren können.
    Sein Blick streifte die Kabel, die kreuz und quer über den Parkettboden verliefen. Wenn er zwischen den Untersuchungstischen und Computern umherrollte, fühlte Rhyme – natürlich nur in Unterkiefer und Kopf — beim Überqueren der Dinger immer einen kleinen Ruck.
    Kabel …
    Er fuhr ins Wohnzimmer und sah zu den Familienfotos. Dachte an seinen Cousin Arthur. Seinen Onkel Henry. Seine Eltern.
    Und natürlich an Amelia Sachs. Immer an Amelia.
    Dann verblassten die angenehmen Erinnerungen, und er dachte unwillkürlich daran, wie er heute fast für ihren Tod verantwortlich geworden wäre. Weil sein aufsässiger Körper sie alle im Stich gelassen hatte. Rhyme und Sachs und Ron Pulaski. Dazu wer weiß wie viele ESU-Beamte, die bei der Erstürmung der Schule in Chinatown womöglich durch die Stromfalle getötet worden wären.
    Rhymes Gedanken machten sich selbstständig. Ihm wurde
klar, dass der Zwischenfall beispielhaft für ihre Beziehung war. Die Liebe war da, gewiss, aber er konnte nicht abstreiten, dass er Amelia einschränkte. Dass sie nur teilweise die Person war, die sie hätte sein können, falls sie einen anderen Lebensgefährten hätte oder sogar allein wäre.
    Dies war kein Selbstmitleid. Im Gegenteil, Rhyme fühlte sich merkwürdig heiter.
    Er stellte sich vor, was wohl passieren würde, wenn sie ihr Leben ohne ihn fortsetzte. Und er gelangte leidenschaftslos zu dem Schluss, dass Amelia Sachs bestens zurechtkommen würde. Er sah wieder mal vor sich, wie sie und Ron Pulaski in einigen Jahren gemeinsam die Spurensicherung leiteten.
    In dem stillen Wohnzimmer gegenüber vom Labor, umgeben von Fotos seiner Familie, fiel Rhymes Blick nun auf etwas, das auf dem Tisch lag. Bunt und auf Hochglanzpapier gedruckt. Es war die Broschüre, die Arlen Kopeski, der Sterbehilfe-Befürworter, ihm dagelassen hatte.
    Die freie Wahl …
    Belustigt stellte Rhyme fest, dass das Heft in weiser Voraussicht behindertenfreundlich gestaltet worden war. Man brauchte es nicht in die Hand zu nehmen und durchzublättern. Die Telefonnummer der Organisation war in großen Ziffern auf den Umschlag gedruckt – nur für den Fall, dass jemand sich umbringen wollte und nicht gut sehen konnte.
    Beim Anblick der Broschüre nahm in Rhymes Verstand ein Plan Gestalt an. Er würde einige Vorbereitungen erfordern.
    Er würde Geheimhaltung erfordern.
    Er würde subversive Energie erfordern. Und Bestechung.
    Doch so sah das Leben eines Querschnittsgelähmten nun mal aus. Die Gedanken waren frei und ungehindert, aber fast jede Handlung benötigte einen Mittäter.
    Der Plan würde außerdem einige Zeit erfordern. Doch nichts wirklich Wichtiges im Leben geschah jemals schnell. Rhyme
wurde von der Vorfreude erfüllt, die mit einer endgültigen Entscheidung einhergeht.
    Seine größte Sorge war, dass die Geschworenen seine Aussage über die Beweise gegen den Uhrmacher auch ohne Rhymes persönliche Anwesenheit zu hören bekommen würden. Es gab eine entsprechende Möglichkeit: die Abgabe einer beeideten Erklärung. Zudem waren Sachs und Mel Cooper erfahrene Zeugen der Anklage. Und auch Ron Pulaski würde sich gut schlagen, glaubte Rhyme.
    Er würde morgen unter vier Augen mit dem Staatsanwalt sprechen und ihn bitten, eine Gerichtsprotokollantin vorbeizuschicken, die seine Aussage aufnehmen sollte. Thom würde sich nichts dabei denken.
    Lächelnd fuhr Lincoln Rhyme zurück ins menschenleere Labor mit all der Elektronik und Software und – o ja – den Kabeln, die es ihm gestatten würden, den Anruf zu tätigen, der ihn seit dem Moment beschäftigte, nein, heimsuchte , in dem der Uhrmacher verhaftet worden war.

Zehn Tage nach dem Earth Day
IV
    DER LETZTE FALL
    »Meine körperliche Ertüchtigung besteht im Wesentlichen
darin, dass ich stehe und den ganzen Tag von einem
Labortisch zum anderen gehe. Ich ziehe daraus mehr
Nutzen und Vergnügen als manche meiner Freunde und
Konkurrenten aus Spielen wie Golf.«
    THOMAS ALVA EDISON

… Sechsundachtzig
    Amelia Sachs und Thom Reston eilten durch den Eingang des Krankenhauses. Keiner von ihnen sprach ein Wort.
    In der Lobby und auf den Korridoren war es ruhig, was an einem Samstagabend in New York City irgendwie seltsam wirkte. Normalerweise herrschte in den Notaufnahmen Chaos – wegen der Unfälle, Alkoholvergiftungen, Überdosen und natürlich der vereinzelten Schuss- oder

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