Opfertod
Wagenbachs Eltern?«, fragte Lena und sah hinüber zu dem älteren Ehepaar, das im Wartebereich Platz genommen hatte. Der Mann hielt seine Frau fest umschlungen, während diese ihr Gesicht in den Händen vergrub und ihr Schluchzen über den Flur drang.
»Ja«, gab die Schwester leise zur Antwort, »die Mutter, sie schafft es nicht, zu ihrer Tochter hineinzugehen.«
Als Lena und Brandt die Tür zum Zimmer öffneten, lag Christine Wagenbach halb aufgerichtet im Bett. In der Tür zum Krankenzimmer blieb Lena kurz stehen. Die vielen Schläuche und Maschinen. Erneut zwang sie sich, die Gedanken an damals fallenzulassen und sich auf das Bevorstehende zu konzentrieren. Wagenbach trug ein hellblaues OP -Hemd. Die Augen nur halb geöffnet, starrte sie aus dem Fenster und schien weder Lena noch Brandt oder die Schwester wahrzunehmen. Ihr Gesicht war aschfahl. Ihre spröden Lippen leicht geöffnet.
»Frau Wagenbach, hier ist jemand von der Polizei …«, kündigte die Schwester zaghaft an und bedeutete Lena und Brandt, auf den Stühlen neben dem Bett Platz zu nehmen.
Als die junge Frau nicht reagierte, wandte sich die Schwester an Lena. »Zehn Minuten, das muss reichen«, erklärte sie und schloss beim Hinausgehen leise die Tür.
Schweigend setzten sie sich, bevor Lena sich räusperte. »Frau Wagenbach, mein Name ist Lena Peters, ich arbeite als Psychologin für die Mordkommission … Ich kann mir vorstellen, dass das, was Sie erlebt haben, furchtbar schlimm für Sie sein muss«, begann sie vorsichtig, bemüht, ihren Blick nicht über die Bettdecke schweifen zu lassen, nicht an den Stumpf zu denken, der anstelle ihrer rechten Hand darunterlag. »Wären Sie dennoch bereit, mir ein paar Fragen zu beantworten?«
Die Frau rührte sich nicht, sondern starrte nur weiter aus dem Fenster.
Ungeduldig rutschte Rebecca Brandt auf ihrem Stuhl herum. »Na, kommen Sie schon, wie sah der Kerl denn aus?«, platzte es unvermittelt aus ihr heraus.
Lena riss den Kopf herum und legte einen Finger auf die Lippen. »Nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen«, zischte sie Rebecca Brandt zu und bat sie, draußen zu warten.
Die Polizistin warf die Hände hoch. »Wie du meinst«, raunte sie und verließ den Raum.
Lena wartete noch, bis sie die Tür geschlossen hatte, ehe sie sich Christine Wagenbach mit einem entschuldigenden Blick zuwandte. »Ich habe mir sagen lassen, Sie arbeiten als Kindergärtnerin …«, fing sie noch einmal an. »Das macht sicher Spaß …«, sagte sie und lächelte. »Ich liebe Kinder.«
Keine Reaktion.
Zu früh! Es ist viel zu früh, um sie zu befragen! An diesem Morgen läuft aber auch wirklich alles schief! , dachte Lena wütend. Erst war sie zu spät zur Besprechung gekommen, dann erfuhr sie ganz nebenbei, dass ihre Vorgängerin aus unerfindlichen Gründen während der laufenden Ermittlungen verschwunden war, und dann auch noch diese viel zu voreilige Befragung eines völlig traumatisierten Opfers! Lena versuchte, sich zusammenzureißen. Sie beugte sich leicht vor und stützte ihre Ellenbogen auf ihren Knien ab. »Zunächst einmal möchte ich Ihnen für das, was Ihnen zugestoßen ist, mein aufrichtiges Mitgefühl aussprechen«, machte sie weiter, um einen warmherzigen, beruhigenden Tonfall bemüht. »Ich kann mir vorstellen, wie Sie sich fühlen müssen.«
Mit einem Mal drehte die junge Frau wie in Zeitlupe den Kopf zu ihr. »Gar nichts können Sie, gar nichts!« Ihre Stimme zitterte und überschlug sich. »Sie haben doch nicht die geringste Ahnung, was für ein Gefühl es ist, Opfer eines solchen Monsters zu sein!«
Lena saß nur da und verzog keine Miene. Wagenbach konnte nicht um ihre Vergangenheit wissen. Von den Erniedrigungen und den höllischen Qualen, die sie damals über sich hatten ergehen lassen müssen und die sie zu jener Einzelgängerin hatten werden lassen, die sie bis heute war. Und nicht einmal einem geschulten Beobachter wäre die Verletzlichkeit aufgefallen, die Lena hinter ihrer ernsthaften Fassade verbarg und die allenfalls in schwachen Momenten kurzzeitig zum Vorschein kam. Lena musterte die junge Frau eine Zeitlang und tat einen tiefen Atemzug. »Trotz der schrecklichen Dinge, die Ihnen angetan worden sind, sollten Sie wissen, dass Sie einen großen Schutzengel hatten«, fuhr sie schließlich fort. »Wie Sie sicher wissen, gab es Frauen, die keinen hatten – Frauen, die nicht entkommen konnten.« Sie machte eine Pause, um ihre Worte sacken zu lassen, und suchte dabei immer wieder
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