Opfertod
den Blick der jungen Frau. »Die Polizei setzt alles daran, diesen Kerl, der Ihnen das angetan hat, zu schnappen. Aber damit er weder Ihnen noch sonst irgendeiner Frau je wieder weh tun kann, benötigen wir Ihre Hilfe, Frau Wagenbach.«
Christine Wagenbach zögerte, ehe sie ein kaum merkliches Kopfnicken zustande brachte.
»Gut, dann werde ich jetzt mit meinen Fragen beginnen.« Lena bückte sich nach ihrer Handtasche, um ihr schwarzes Notizbuch herauszunehmen. »Waren Sie in letzter Zeit eigentlich häufiger in Chatrooms unterwegs?«
»Nein … noch nie.«
Lena nickte, ehe sie mit der eigentlichen Befragung fortfuhr. »Sie sind in einem U-Bahn-Schacht gefunden worden«, arbeitete sie sich ruhig und sachlich vor. »Erinnern Sie sich noch, wie Sie dorthin gekommen sind?«
Ein verängstigtes Kopfschütteln.
»Denken Sie ganz in Ruhe nach, bevor Sie antworten. Sie haben alle Zeit der Welt.«
Ganz im Gegensatz zu uns.
»Oder können Sie mir vielleicht sagen, wo Sie sich zuletzt aufgehalten haben, bevor Sie …«
»Ich war … war wie jeden Morgen mit meinem Fahrrad auf dem Weg zur Arbeit«, brachte die Frau unvermittelt hervor. Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Krächzen.
Lena sah, wie ihre Unterlippe bebte. »Ganz ruhig«, redete sie mit gedämpfter Stimme auf die junge Frau ein. »Sie sind jetzt in Sicherheit, hier kann Ihnen nichts passieren.«
Tränen liefen über Christine Wagenbachs Wangen, und es verging eine ganze Weile, ehe sie in der Lage war, fortzufahren. Dennoch hatte Lena das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein.
»Unterwegs habe ich bei dem kleinen Bäcker gehalten, bei dem ich immer mein Frühstück hole …«, erzählte die junge Frau weiter. »Ich habe mein Fahrrad abgestellt und bin reingegangen … aber als ich wieder rauskam, hatte jemand mein Rad einige Meter weiter in die Büsche geworfen. Ich … ich habe mich umgeschaut, aber da war niemand …« Ihre Worte gewannen jetzt zunehmend an Klarheit.
»Und was geschah dann?«
»Ich wollte mein Rad aufheben …« Sie hielt kurz inne, um sich das Geschehene noch einmal vor Augen zu führen. Kleine Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Stirn. »Dann habe ich plötzlich ein Stechen im Nacken gespürt … Ich wollte mich noch umdrehen, aber da war es schon zu spät – ich bin sofort zusammengebrochen …«
Er injiziert seinen Opfern ein Betäubungsmittel, bevor er sie verschleppt , notierte Lena und sah wieder auf. »Und als Sie wieder zu sich gekommen sind?«
»Alles war so seltsam verschwommen um mich herum … überall grelle Lichter, die mich geblendet haben …« Wagenbach blinzelte, als steche ihr das Licht noch immer in den Augen. »Ich war festgeschnallt … auf einem Tisch.«
Lena schloss die Augen. Allein der Gedanke daran, was den Frauen dort angetan wurde, jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken.
»Ich trug eine … eine Maske, ich glaube, es war eine Sauerstoffmaske, die war mit so einem Apparat verbunden …«
Lena machte einen weiteren Vermerk in ihr Notizbuch und tastete sich weiter voran, obgleich ihr insgeheim nichts lieber gewesen wäre, als sich und Wagenbach die grausamen Details zu ersparen.
»Ich hatte Angst – höllische Angst! Und dann war da plötzlich dieser Mann.«
Lena hielt den Atem an. »Was für ein Mann?«
»Ich weiß nicht … er trug so einen OP -Kittel … und einen Mundschutz und …« – »Sie konnten sein Gesicht also nicht sehen?«, unterbrach Lena.
Zögerlich schüttelte Wagenbach den Kopf.
Das wäre ja auch zu schön gewesen.
»Er … er hatte eine Spritze in der Hand«, fuhr die junge Frau fort, »o Gott, er … er kam auf mich zu! Und ich … ich konnte nichts tun!«
Auf einmal sah Lena, wie Wagenbach zu zittern begann, als ob jene Beklemmung erneut Besitz von ihr ergriff.
»Und ehe ich mich’s versah, war ich auf einmal wie … wie gelähmt … hatte keinerlei Kontrolle mehr über meinen Körper. Und dann war da plötzlich das viele Blut – und dieses sägende Geräusch!« Sie warf den Kopf von links nach rechts, wie um die quälenden Laute abzuschütteln.
Lena überlief ein eisiger Schauer. Sie musste sich regelrecht zwingen, weiter zuzuhören, während sie sich fragte, ob Christine Wagenbach überhaupt schon in der Lage war, das ganze Ausmaß dessen, was ihr angetan worden war, zu realisieren. Ob sie begriffen hatte, dass ihr in jenem Moment die Hand abgetrennt worden war, dass sie für den Rest ihres Lebens ein Krüppel sein
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