Opferzeit: Thriller (German Edition)
Spätnachmittag im Winter in Neuseeland besingen. Sie summt die Melodie mit. Derek singt immer noch und übertönt all ihre Geräusche.
Sie setzt sich aufs Bett. Das Zimmer wird von einem Ölofen beheizt. Die Möbel passen gut zum Haus, beides sollte man besser abfackeln. Das Bett ist weich und die Verlockung groß, die Beine hochzulegen, sich ein Kissen unter den Kopf zu schieben und ein Nickerchen zu machen. Auch für die Bakterien im Kissenbezug wäre es verlockend, nähere Bekanntschaft mit ihr zu schließen. Während sie wartet, lässt sie den Aktenkoffer aufschnappen, nimmt eine Zeitung heraus und überfliegt die Titelseite. Dort steht ein Artikel über einen Typen, der die ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzt hat. Frauen getötet hat. Folter. Vergewalti gung. Mord. Der Schlächter von Christchurch. Joe Middleton. Er wurde vor zwölf Monaten verhaftet. Am Montag beginnt sein Prozess. Sie selbst wird in dem Artikel auch erwähnt. Melissa X. Obwohl dort ihr richtiger Name, Natalie Flowers, steht, hört sie inzwischen nur noch auf Melissa. Schon seit ein paar Jahren.
Einige Minuten verstreichen. Sie hockt immer noch auf dem Bett, als Derek, der sich mit einem Handtuch die Haare abtrocknet, umgeben von Dampf und dem Duft von Rasierbalsam aus dem Badezimmer tritt. Um die Hüfte hat er sich ein Handtuch geschlungen. Von dort windet sich ein Schlangen-Tattoo die Seite hinauf über seine Schulter, die beiden Enden ihrer gespaltenen Zunge verlaufen links und rechts um seinen Hals. An einigen Stellen ist die Schlange voller winziger Details, an anderen, wo sie noch nicht fertig ist, sind nur die Umrisse skizziert. Und da sind die für einen Mann wie Derek unvermeidlichen Narben, eine ausgewogene Mischung guter und schlechter Zei ten – gute Zeiten für ihn und schlechte Zeiten für die an deren.
Sie lässt die Zeitung sinken und lächelt.
»Was zum Henker machst du hier?«, fragt er.
Melissa dreht den Aktenkoffer in seine Richtung, streckt die Hand aus und drückt an der Stereoanlage auf Pause. Der Aktenkoffer gehört eigentlich Joe Middleton. Er hat ihn an jenem Tag bei ihr liegen lassen, als er sie für immer verlassen hat. »Ich habe die andere Hälfte deiner Bezahlung dabei.«
»Woher weißt du, wo ich wohne?«
Was für eine blöde Frage. Doch Melissa behält es für sich. »Ich weiß gerne, mit wem ich Geschäfte mache.«
Er wickelt das Handtuch von seiner Hüfte, den Blick auf das Bargeld in dem Koffer gerichtet. Als er anfängt, sich die Haare abzutrocknen, baumelt sein Schwanz hin und her.
»Ist das auch das ganze Geld?«, fragt er, während er weiter sein Haar abrubbelt. Sein Gesicht ist jetzt vom Handtuch bedeckt, und seine Stimme dringt gedämpft darunter hervor.
»Bis auf den letzten Dollar. Wo ist die Ware?«
»Hier«, sagt er.
Sie weiß, dass sie hier ist. Seit ihrem ersten Treffen vor zwei Tagen, als sie ihm die erste Hälfte seiner Bezahlung übergeben hat, ist sie ihm auf Schritt und Tritt gefolgt. Sie weiß, dass er die Sachen erst vor einer Stunde abgeholt hat. Er ist dann ohne Zwischenstopp mit einer Tasche voller Gegenstände, über die sein Bewährungshelfer nicht allzu erfreut wäre, hierhergefahren.
»Wo?«, fragt sie.
Er wickelt sich das Handtuch wieder um die Hüfte. Wahrscheinlich hätte sie auch einfach hier hereinmarschieren, ihn erschießen und das Haus durchsuchen können, aber sie braucht ihn noch. Die Sachen sind bestimmt nicht schwer zu finden. Sie vermutet, dass ein Typ, der eine Person in seinem Schlafzimmer fragt, woher sie wisse, wo er wohne, Gegenstände auf dem Dachboden oder unter den Dielenbrettern versteckt.
»Zeig es mir«, sagt er und deutet mit dem Kopf auf das Geld.
Sie schiebt den Aktenkoffer über das Bett zu ihm hinüber. Er tritt vor. Die zwanzig Riesen bestehen aus Fünfzig- und Zwanzigdollarscheinen. Sie sind fein säuberlich zu Bündeln gestapelt und mit Gummibändern umwickelt. In den letzten paar Jahren hat sie ihr Geld hauptsächlich mit Erpressung und Einbruchdiebstahl verdient, manchmal bei den Männern, die sie getötet hat, aber vor einigen Monaten ist sie an eine hübsche Stange Geld gekommen. Vierzigtausend Dollar, um genau zu sein. Er blättert mehrere der Bündel durch und kommt zu dem Schluss, dass es vollständig ist.
Er geht rüber zum Kleiderschrank und zieht eine Kiste mit Kleidung heraus. Dann hebt er ein Stück Teppich an und steckt am Rand einen Schraubenzieher in den Fußboden. Melissa verdreht die Augen und denkt, dass
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