Ophran 3 Die entflohene Braut
Füßen. Wenn seine Reederei groß und erfolgreich werden sollte, würde er mit der neuen Technologie Schritt halten und in weitere Dampfschiffe investieren müssen, das wusste er. Besonders jetzt, wo die „Liberty“ zerstört worden war. Doch kein Dampfschiff ließ sich mit seiner wunderbaren, alternden „Charlotte“ vergleichen, ihrem Rollen und Schlingern, ihrem Ächzen und Knarren. Es war ein herrliches Gefühl, wenn sie sich mit nichts als der frischen Seeluft in den Segeln ihren Weg durch die Wellen bahnte.
„Sie haben die ganze Nacht kein Auge zugetan, stimmt’s? “ Oliver runzelte die Stirn, als er auf Deck trat.
Jack zuckte die Schultern. „Ich bin nicht müde. “
„Sie sehen zum Fürchten aus. Suchen Sie sich lieber ein Plätzchen zum Schlafen, bevor Sie noch über Ihre eigenen Füße stolpern und kopfüber ins Wasser fallen. “
„Ich bin wohlauf, Oliver. “
„Wohlauf oder nicht, Sie haben lange genug am Ruder gestanden“, erwiderte Oliver. „Wenn Miss Genevieve wüsste, dass Sie die ganze Nacht in triefend nassen Kleidern und mit leerem Magen den Steuermann gespielt haben, dann könnten Sie was erleben! Falls Sie nicht wollen, dass sie Ihnen die Ohren lang zieht, sobald Sie heimkommen, sollten Sie jetzt unter Deck verschwinden und sich ausruhen. “
„Das ist Erpressung! “
„Ganz recht. Und wenn Sie glauben, ein alter Dieb wie ich hätte nicht ab und zu seine Freude an einer kleinen Erpressung, dann haben Sie offenbar vergessen, wie’s im wahren Leben zugeht! “
Jack seufzte. In Olivers Augen würde er immer ein Bursche von vierzehn Jahren bleiben, was bedeutete, dass er nie seine Ruhe hatte, wenn der alte Dienstbote in der Nähe war. „Na schön. Sie können jetzt übernehmen, Henry. “ Er winkte den kleinen Seemann heran, der auf einem Fass saß und liebevoll sein Gewehr polierte. „Rufen Sie mich, wenn es irgendwelche Schwierigkeiten gibt. “
„Ich bin sicher, Henry kommt allein mit der, Charlotte, zurecht, während Sie ein paar Stündchen schlafen“, meinte Oliver und machte deutlich, dass der Rotschopf Jack keinesfalls mit Belanglosigkeiten belästigen sollte. „Nicht wahr, Henry? “
„Aber natürlich! “ Henry wirkte gekränkt. „Ich bin schon zur See gefahren, als der Kapitän hier noch in die Windeln gemacht hat. “
„Sehen Sie, Junge? “ schmunzelte Oliver. „Kein Grund zur Sorge. “
„Versuchen Sie, niemanden zu erschießen, während ich fort bin“, sagte Jack, als er Henry das Steuer übergab.
„Ich werde nur schießen, wenn es sich nicht vermeiden lässt“, versprach Henry. „Sie wissen schon, wenn Piraten versuchen sollten, das Schiff zu kapern, oder diese Schurken auf tauchen, um Ihre Ladyschaft zu schnappen. “
„Rufen Sie mich zuerst. “
„Das werd ich ganz sicher“, gelobte Henry feierlich und blickte Jack nach, als dieser unter Deck verschwand. „Falls Zeit dazu bleibt“, fügte er lächelnd hinzu.
Im Gang auf dem unteren Deck war es still. Nur das Ächzen des Schiffes und das friedliche Schnarchen der Matrosen waren zu vernehmen, die sich zum Schlafen in ihre Kajüten zurückgezogen hatten. Die „Charlotte“ war nicht voll besetzt, und Jack war sicher, dass er irgendwo eine freie Koje finden würde. Er zog sein feuchtes Hemd aus, während er müde den engen Korridor entlangging und sich darauf freute, vom sanften Schaukeln seines Schiffes in den Schlaf gewiegt zu werden.
Als er an seiner Kajüte vorbeikam, drang ein erstickter Laut durch die Tür. Er hielt inne, nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Eine geraume Weile lang blieb alles still.
Dann vernahm er abermals ein leises, tieftrauriges Schluchzen.
Er klopfte an die Tür. „Amelia! “
Mit einem Mal war alles still. Jack wartete einen Augenblick und lauschte. Amelia war absichtlich verstummt, daran bestand kein Zweifel. Hin und her gerissen stand er da. Sollte er bleiben und darauf bestehen, dass sie ihm öffnete? Oder lieber gehen und ihr die Ruhe gönnen, die sie offenbar wünschte? Nach einer Weile setzte er seinen Weg zögernd fort. Ehe er das Ende des Ganges erreicht hatte, begann das leise Weinen von neuem.
Jack wünschte sämtliche Anstandsregeln zur Hölle, ging entschlossenen Schrittes den Gang entlang und öffnete die Tür.
Durch das Bullauge drang nur wenig Licht in die Kajüte, so dass sie in ein graues Halbdunkel getaucht war. Es dauerte eine Weile, bis seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Dann sah er Amelia
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