Opium bei Frau Rauscher
das Schicksal meinte es gut mit Herrn Schweitzer. Jürgen beachtete ihn gar nicht, vielmehr ging er sofort hinter den Tresen, gab Lola einen Kuß und bugsierte sie zu einer Tür, die im rückwärtigen Teil des Lokals im Dunkeln lag. Er überlegte, ob er auf das Wechselgeld verzichten sollte, als lautstarkes Geschrei aus dem hinteren Raum ertönte. Einzelne Worte waren nicht zu verstehen. Aber in seiner Intonation ähnelte es gar arg einem Eifersuchtsdrama. Würde jetzt ein Schuß ertönen, Herrn Schweitzer würde es nicht wundern. Und zu Sabine könnte er sagen, er wüßte auch, warum Jürgen eine weitere Pistole besaß. Warum denn? Na, um seine Geliebte abzuknallen. Der Fall wäre erledigt, und er, Herr Schweitzer, hätte sich seinen Lohn verdient.
Aber kein Pistolenknall zerriß die Luft. Stattdessen kam Lola zurück und bedachte ihn mit einem entschuldigenden Blick: „Sorry, aber mein Freund … manchmal ein bißchen hitzköpfig, verstehst du? Dafür aber eine ausgesprochene Kanone im Bett. Vielleicht gehört ja beides zusammen. Äh, wie viel Geld hast du mir vorhin gegeben?“
Obwohl ein orkanartiger Sturm durch die schmale Klappergaß pfiff, betrachtete Herr Schweitzer noch lange das Schild Zur schwulen Frau Rauscher. So manches Licht ging ihm dabei auf. Oscar Wilde, die Regenbogenflagge, die holländische Königin und der weibische Franz, der nicht einfach nur weibisch, sondern obendrein auch noch homosexuell war. Und wie konnte überhaupt jemand auf die Idee kommen, hier in seinem Stadtteil eine Schwulenbar zu eröffnen? Die verkehrten doch sonst immer auf der Hibbdebach-Seite, so um die Konstabler Wache herum. Dort hatten sie ihr Revier. Das war ja auch praktisch, denn die Gerichtsgebäude waren in unmittelbarer Nähe, und der ein oder andere Syndikus verkehrte dort nach Feierabend, ohne sich auch nur seiner Robe zu entledigen. Das alles wußte Herr Schweitzer von seinem Spezie Ferdi, dem Taxifahrer, der stets allerhand Geschichten zu jedem x-beliebigen Thema auf Lager hatte.
Trotz des Unwetters ging er zu Fuß. Er hatte noch nachzudenken. Eine Schwulenbar, okay, aber warum ausgerechnet hier, da sich die typische Kundschaft doch auf der anderen Mainseite tummelte? Und Lola, Jürgens außereheliche Liebschaft? Wenn ja, sollte er seiner Auftraggeberin davon berichten? Und warum bedient überhaupt eine Frau in einer solchen Bar? Wollte man damit auch normale Kundschaft anlocken? Was hieß hier schon normal? Doch Herr Schweitzer wußte, zwischen Himmel und Erde ist alles möglich, und eine jede neue Zeit generierte eine neue Moralvorstellung. Im Augenblick tendierte er dazu, Sabine nichts davon zu erzählen. Schließlich sollte er ja nur herausfinden, ob Jürgen wieder auf die schiefe Bahn gerät. Doch bislang deutete nichts darauf hin. Eine Affäre ist noch lange keine kriminelle Handlung. So sah es Herr Schweitzer.
Seine Mitbewohnerin Laura Roth war noch wach, als er die heimische Küche betrat. Bei einer Flasche Cuvée Reserve 2004 hielten sie noch ein ausgiebiges Schwätzchen.
Noch bevor Herr Schweitzer ganz eingeschlafen war, wunderte er sich darüber, daß die stille Post in Sachsenhausen nicht mehr richtig zu funktionieren schien. Früher hätte die Eröffnung einer solchen Bar wie Zur schwulen Frau Rauscher in Windeseile die Runde gemacht. Und sicher hätte sich auch ein Sturm der Entrüstung ausgebreitet. Mit den Altvorderen der Traditionsbewahrer in vorderster Front. Komisch, dachte er zum Abschluß, die Zeiten ändern sich schneller als angenommen. Vielleicht ist das gar nicht mal so schlecht.
Der nächste Tag lief friedlich an. Herr Schweitzer saß im Schneidersitz – eine für eine derart ungelenkige Person beachtliche Leistung – auf dem Teppich seines Zimmers und sortierte Urlaubsfotos. Es sei vorweggeschickt, daß seine Freundin ihm erst gestern noch gesagt hatte, man brauche keine Fotos mehr, es reiche, alles auf einer DVD zu speichern, diese könne man dann sogar über einen Player in den Fernseher spielen, aber Herr Schweitzer war jemand, der seine eigenen Grundwerte besaß. Und dazu gehörte nun mal ein Fotoalbum, eines, daß man jederzeit ohne Kabelsalat anschauen und auch ganz altmodisch umblättern konnte. Für jede einzelne Station ihrer langen Reise bildete er ein Häufchen. Außerdem summte Herr Schweitzer vor sich hin und fühlte sich wie eine vollendete Komposition aus Glück und einer neuen Leichtigkeit. Das Foto eines laotischen Buben in Schuluniform, der ihm seinerzeit
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