Optimum 1
Raum um. Die Mensa war groß und sehr hell, drei der Wände in kräftigen bunten Farben gestrichen, die vierte eine Fensterfront, die direkt auf den Park hinausführte. Überall gab es riesige Topfpflanzen, und die Tische und Stühle standen in gemütlichen, kleinen Sitzgruppen zusammen. Es wirkte mehr wie ein Restaurant als eine Kantine. Und von dem langen Tresen an der linken Seite schwebte ein verführerischer Duft nach gegrilltem Fleisch zu ihnen herüber.
Rica sog den Essensgeruch ein wie ein hungriger Schäferhund. »Riecht gut«. Sie spürte, wie sich auf ihrem Gesicht ein Lächeln ausbreitete. Das war mal ein guter Service.
Eliza lachte. »Warte es ab. Wenn du zum hundertsten Mal Cordon Bleu hattest, wirst du anders darüber denken. Der Speisesplan wiederholt sich alle paar Wochen.«
Rica runzelte die Stirn. »Klingt jetzt nicht so schlimm.«
»Das habe ich am Anfang auch gesagt.« Eliza grinste, dann griff sie nach Ricas Arm und zog sie zu dem langen Tresen. Rica folgte ihr gehorsam, konnte aber nicht umhin, sich dabei im Raum umzusehen. Sie suchte Robins Gesicht in der Menge, oder vielleicht wenigstens Jo, irgendjemand Bekanntes eben. Aber es waren zu viele Schüler anwesend, sie konnte niemanden unter ihnen ausmachen.
Eliza schnappte ein Tablett von einem Stapel und drückte es Rica in die Hand, bevor sie sich selbst auch eins nahm. Dann schob sie Rica sanft in Richtung Essensausgabe. Rica gab es auf, den Raum nach Robin abzusuchen, und stellte sich folgsam in die Schlange. Vor ihnen in der Reihe stand ein Haufen kichernder Unterstufler, die sich unbeschwert über irgendwelche Pokémon-Karten austauschten. Eliza betrachtete sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, als beneidete sie die Kinder. Als wünschte sie sich, auch noch einmal so jung und unbeschwert zu sein. Da passierte es.
Rica konnte später nicht genau sagen, wie es eigentlich angefangen hatte. Sie wollte gerade Eliza ansprechen, als irgendwo neben ihr etwas mit einem ohrenbetäubenden Klirren auf dem Boden aufschlug. Das allein wäre noch nicht besonders auffällig gewesen – sie waren in der Kantine einer Schule, Rica erwartete, dass hier das ein oder andere zu Bruch ging. Doch dem Klirren folgte ein wildes Geschrei, das Rica zusammenzucken ließ.
Eigentlich war es eher ein Aufheulen wie von einem wilden Tier, das jemand bis aufs Blut gereizt hatte. Rica wirbelte herum, genauso wie Dutzende andere Schüler. Ein Stück weiter vorn hatte sich ein Knäuel von Schülern um etwas – oder jemanden – versammelt, das Rica nicht erkennen konnte.
Und das Geschrei drang mitten aus dem Knäuel. Irgendjemand brüllte etwas, Worte, die über den hysterischen Tonfall überhaupt nicht zu verstehen waren. Rica konnte aus den Augenwinkeln die ersten Kantinenmitarbeiter sehen, die versuchten, von hinter der Theke an den Ort des Geschehens zu kommen.
Einen kurzen Augenblick lang fühlte sie sich wie gelähmt, konnte keinen Finger bewegen, doch dann schoss sie vorwärts, geradewegs auf die Gruppe von Schülern zu. Sie achtete nicht einmal darauf, ob Eliza ihr folgte, so sehr war sie auf die Schüler vor ihr fixiert. Da bringen sich welche um, war der Gedanke, der ihr durch den Kopf ging. Sie hasste Prügeleien. Sie hasste Gewalt, aber wann immer sie sie verhindern wollte, schien sie in Schlägereien zu geraten. Manche Lehrer hatten ihr deswegen unnötige Aggression unterstellt.
Das Geschrei wurde lauter. Ohne Rücksicht auf die Umstehenden drängte Rica sich durch die Menge und scheute sich nicht, dabei auch ihre Ellbogen einzusetzen. Als sich ihr ein besonders großer, massiger Schüler in den Weg stellte, funkelte Rica ihn nur von unten herauf an, packte dann seinen Pullover auf der Vorderseite und zog den Kerl einfach aus dem Weg. Er war so verblüfft, dass er sich nicht einmal wehrte.
»Sofort aufhören!« Rica schrie schon los, bevor sie überhaupt einen Überblick darüber hatte, was vor sich ging. Dann nahm sie sich kurz die Zeit, die Situation zu durchschauen.
Eine Oberstuflerin – groß, trainiert und mit langen blonden Haaren – hatte sich einen der Unterstufler geschnappt und in den Schwitzkasten genommen. Nein, nicht nur in den Schwitzkasten, sie drückte ihm ihren Unterarm so fest über den Hals, dass der Junge schon bläulich angelaufen war und sichtbar nach Luft schnappte. Das Mädchen schrie und heulte in einem fort, aber es waren keine Worte zu verstehen. Als hätten Wut und Schmerz sie aller menschlichen Sinne beraubt,
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