Optimum 1
nach vorn, sie konnte das Grinsen auf dem Gesicht ihrer Mutter nur zu gut sehen.
»Es gefällt dir«, stellte diese fest. »Siehst du, alles gar nicht so schlimm. Ich bin mir sicher, wir leben uns hier gut ein.«
»Trotzdem«, murmelte Rica, merkte, dass sie sich anhörte wie ein trotziges Kleinkind, und seufzte. »Ich wünschte nur, es wäre nicht so weit weg von … allem.« Von Yannik, hatte sie sagen wollen. Von Yannick und Lena und Claire und all den anderen. Aber das hatte sie nun wirklich schon oft genug zum Besten gegeben, und ihre Mutter würde genauso wenig darauf eingehen wie die Dutzend Male zuvor.
»Ist ja erst mal nur ein Schuljahr. Du kommst schon früh genug zurück zu deinen Freundinnen.« Ricas Mutter versuchte ein aufmunterndes Lächeln, doch ganz gelang ihr das nicht. Sie wusste selbst, was sich in einem Jahr alles verändern konnte. Ob Yannik auf mich wartet, wie er versprochen hat?
»Schon okay«, brummte Rica. Sie konnte es sowieso nicht ändern, warum also nicht versuchen, Frieden zu schließen?
Wieder bog der Wagen um eine scharfe Kurve, und erneut tauchte ein Gebäude vor ihnen auf. Dieses war viel moderner als das Schlösschen, ein mehrstöckiger Kasten mit roten Klinkersteinen an der Fassade, einigen Garagen und einem kleinen Parkplatz daneben. Rica fand, das Haus sah so aus, als sei es aus einer Großstadt hierherversetzt worden. So wie ich.
Ihre Mutter lenkte das Auto auf einen der Parkplätze und stellte den Motor aus. Dann wandte sie sich mit erwartungsvollem Gesicht Rica zu.
»Wollen wir uns die Wohnung ansehen?«
Mit einem Seufzen griff Rica nach ihrem kleinen Rucksack und öffnete die Wagentür. Ein Schwall warmer Luft schlug ihr entgegen.
Gleichzeitig strömten Geräusche und Gerüche auf sie ein, als hätte sie sich aus einer Isolationskammer unvermittelt in die Wirklichkeit begeben. Die Luft roch nach warmem Asphalt und gemähtem Gras, und natürlich nach Bäumen. Ein harziger, nicht unangenehmer Duft, und Rica konnte nicht anders, als einmal tief durchzuatmen. Von irgendwoher war das Geschrei von jüngeren Kindern zu hören, und in den dichten Zweigen der Bäume zwitscherten ein paar Vögel.
Vielleicht ist es auf dem Land doch gar nicht so schlimm , dachte Rica und schob den Gurt des Rucksacks über ihre Schulter.
»Ma?«
»Was ist?« Ihre Mutter beugte sich hinter dem Auto hervor. Sie hatte schon den Kofferraum geöffnet und war gerade dabei, Reisetaschen auszuladen. Die wenigen Möbel, die sie mitgenommen hatten, würden später mit einem Kleintransporter nachgeliefert werden, vielleicht morgen. Wichtig war das nicht, denn die Apartments, die hier für Lehrer und Erzieher gestellt wurden, waren ohnehin möbliert.
»Ich will mich ein bisschen umsehen.« Rica schlüpfte in den zweiten Rucksackgurt.
»Aber wir haben noch gar nicht ausgepackt. Und die Wohnung – «
»Ich bekomme die Wohnung schon noch früh genug zu sehen.« Ricas Tonfall war patziger, als sie beabsichtigt hatte. Sie versuchte, es durch ein Lächeln auszugleichen, und machte mit der Rechten eine weit ausholende Bewegung, die die ganze Umgebung einschloss. »Das Licht ist jetzt gut. Ich würde gern ein paar Bilder machen. Ich muss unbedingt Lena zeigen, wie es hier aussieht.« Sie verlegte sich auf ihren Hundeblick. »Bitte, Ma, ich hab versprochen, dass ich ihr gleich schreibe, wenn ich hier bin. Und dass ich Fotos mache.« Nichts dergleichen hatte sie getan, doch ihrer Mutter lag zu viel an Ricas »Sozialleben«, wie sie es nannte, um sich dem Argument zu widersetzen.
»Also gut. Aber sei bald wieder da, ja? Du solltest dich für morgen vorbereiten. Immerhin ist das dein erster Tag hier an der neuen Schule.«
Als ob es da viel vorzubereiten gab. Rica würde ja ohnehin mit einer neuen Klasse, einem neuen Schuljahr und vermutlich auch ganz neuen Fächern hier anfangen. Wer wusste schon, was sie in diesem Elitebunker so lehrten. Vermutlich Wirtschaftsinformatik oder so einen Müll. Dennoch blieb Rica noch einen Moment stehen, um ihrer Mutter die Gelegenheit zu geben, ihre üblichen Sprüche zu ergänzen. »Bleib nicht zu lange weg! Pass auf, mit wem du redest! Ruf an, wenn du später heimkommst!« Aber Rica wartete vergebens. Ihre Mutter lächelte nur und nickte ihr zu.
»Nun geh schon!«
Und da verstand sie. Es gab keinen Grund, sie hier zur Vorsicht zu ermahnen. Das hier war nicht die Großstadt. Hier war Rica umgeben von einem hohen Metallzaun, der alle potenziellen Gewalttäter draußen
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