Optimum - Kalte Spuren
leichte Beunruhigung herauszuhören. »Du bist ganz schön clever, das stimmt«, meinte er. Und dann fügte er aus heiterem Himmel einen Satz hinzu, der Rica völlig aus der Bahn warf. »Du bist Ricarda, nicht wahr?«
»Rica …« , stammelte Rica, während sie ihn weiter anstarrte. »Alle nennen mich Rica.« Na super, was Dämlicheres hätte dir nicht einfallen können, oder?
»Rica«, wiederholte der Mann. »Freut mich, dich kennenzulernen.«
»Woher wissen Sie meinen Namen?« Rica hatte sich wieder ein bisschen gefangen. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus, als habe gerade jemand mit voller Wucht hineingeboxt. »Beobachten Sie meine Familie oder so was?«
Sie erinnerte sich plötzlich wieder an einen Streit zwischen ihrer Mutter und Frau Jansen, der Schulpsychologin der Daniel-Nathans-Akademie, den Rica Anfang des Jahres belauscht hatte. »Hören Sie endlich auf, uns beobachten zu lassen«, hatte ihre Mutter gesagt. »Er ist nicht hier. Und er hat sich auch nicht bei uns gemeldet. Wenn Sie ihn verloren haben, dann ist das Ihr Problem.«
Der Mann musterte sie nachdenklich. »Wie kommst du auf die Idee?«
Rica zuckte nur mit den Schultern. Von irgendwo weiter oben am Hang hörte sie nun Stimmen rufen.
»Ich muss weg«, sagte sie, halb erleichtert, eine Ausrede zu haben, halb widerwillig. Dieser Mann interessierte sie, und egal wie seltsam es war, dass er ihren Namen kannte – er kam ihr nicht gefährlich vor. Sie spürte einfach oder glaubte sogar zu wissen, dass sie ihm vertrauen konnte. Er war einer der Guten.
Der Mann hob den Kopf und starrte in das Schneetreiben in Richtung der Stimmen. Dann sah er wieder zu Rica, die sich, entgegen ihrer Ankündigung, nicht von der Stelle gerührt hatte. Plötzlich beugte er sich vor, sodass sein Gesicht direkt vor Ricas war. Sie wich einen Schritt zurück und musste sofort wieder um ihr Gleichgewicht kämpfen.
»Du musst aufpassen«, murmelte der Mann. »Die hier sind nicht deine Freunde. Und was sie vorhaben –«
»Rica! Bist du hier irgendwo?« Nathans Stimme erklang ganz aus der Nähe, nur ein kleines Stück weiter den Berg hoch. Der Mann zuckte zusammen, fuhr zurück und starrte den Hang hinauf. Im nächsten Moment drehte er sich um und verschwand zwischen den Bäumen. Einige Augenblicke lang gelang es Rica noch, ihm mit ihrem Blick zu folgen, doch dann blinzelte sie einmal, und er war mit dem Hintergrund verschmolzen. Er ist richtig gut, dachte Rica. Ich wette, das ist ein Geheimagent oder so etwas. Aber was wollte er von mir? Und was genau tut er hier?
Das Unterholz raschelte, und gleich darauf tauchte Nathan daraus auf. »Da bist du ja.« Er klang erleichtert, aber auch etwas ärgerlich. »Mensch, du kannst doch nicht einfach abhauen. Die machen sich alle Sorgen um dich.« Er machte eine kurze Pause und schob sich die Skimütze ein Stück aus den Augen. »Na ja, wichtiger ist: Ich mache mir Sorgen um dich.«
Rica zuckte mit den Schultern und kämpfte sich endgültig aus der Schneewehe heraus. So gern sie Nathan hatte, in diesem Moment wünschte sie sich, er wäre nicht hier. Sie hatte das starke Gefühl, dass der Mann ihr noch mehr verraten hätte, wenn Nathan nicht gerade jetzt aufgetaucht wäre.
Nathan bekam das natürlich sofort mit. »Überschlag dich mal nicht vor Dankbarkeit«, meinte er etwas verärgert, hielt neben ihr und half ihr das letzte Stück aus der Schneewehe heraus.
»Sorry«, sagte Rica. »Aber da war gerade jemand …« Sie suchte nach den richtigen Worten, fand sie allerdings nicht. Da war gerade ein Geheimagent, und er wollte mir wichtige Informationen verraten, klang dann doch ein bisschen albern.
»Der Psychopath?«, wollte Nathan wissen. Er bückte sich nach Ricas Skiern und kontrollierte abermals die Bindung.
»Nein, jemand anderes. Er hat mich gewarnt«, meinte Rica zögernd.
»Gewarnt? Wovor denn?« Jetzt schien sie doch seine Aufmerksamkeit erlangt zu haben. Er richtete sich auf, schob die Skimütze noch ein Stück nach oben, sodass seine blonden Fransen zu sehen waren, und musterte Rica interessiert.
»Ich weiß nicht recht. Er klang ein bisschen wie … na ja, wie du gestern Morgen.« Rica war selbst ein wenig überrascht, diese Worte aus ihrem Mund kommen zu hören. Das war nichts, was sie sich bewusst überlegt hatte, aber wenn sie jetzt darüber nachdachte – ja, da gab es definitiv etwas, das Nathan und der fremde Mann gemeinsam hatten. Der Mann hatte mit derselben Eindringlichkeit und
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