Optimum - Kalte Spuren
Wind, der über die Piste fegte, gebrochen. Auch der Schnee rieselte nur hier und dort von den Zweigen der Fichten herunter. Ein dämmriges Zwielicht lag zwischen den Bäumen. Noch nie war sie sich so einsam und von allem abgeschnitten vorgekommen. Als wäre sie in ihren eigenen kleinen Kokon aus Stille gehüllt. War das hier der Wald, in dem Robin, Nathan und sie dem Mann mit dem Hund begegnet waren? Rica war sich nicht sicher, sie waren einfach bergan gestiegen, während der offizielle Weg zur Piste viele Schlenker machte. Bei all den Kurven und Serpentinen hatte Rica die Orientierung völlig verloren. Es mochte sein, dass es der gleiche Wald war, oder auch nicht. Es war ohnehin gleichgültig. Sie würde hier keinem Psychopathen begegnen. So viele Zufälle gab es einfach nicht.
Dann hörte sie die Schritte.
Im ersten Moment zuckte Rica so heftig zusammen, dass sie fast das Gleichgewicht verloren hätte. Ihr nächster Impuls war, umzudrehen und den Hang Schuss hinunterzusausen. Doch dann musste sie feststellen, dass sie offensichtlich viel tiefer in die Bäume hineingeraten war, als sie geplant hatte. Wenn sie jetzt einfach losfuhr, standen ihr einige schwierige Ausweichmanöver bevor. Rica tat das, was ihr am Sinnvollsten erschien: Sie stieg langsam weiter bergan.
Die Schritte näherten sich aus dem Wald. Sie waren nicht besonders laut, und wenn es um Rica herum nicht so unheimlich still gewesen wäre, wären sie ihr vielleicht überhaupt nicht aufgefallen. Jemand ging sehr leise, ja schlich beinah über den Schnee unter den Bäumen. Und er kam weiterhin direkt auf sie zu.
Rica war inzwischen fürchterlich heiß geworden, und ihr Atem ging schwer von der Anstrengung, bergauf zu stapfen. Die Schritte schienen jetzt schon ganz nahe zu sein. Entkommen konnte sie ihnen wohl nicht. Also war es das Beste, sich der Gefahr zu stellen.
Wenn es überhaupt eine Gefahr gibt, Dummerchen.
Rica hielt inne, wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und drehte sich in die Richtung, aus der sie die Schritte vernahm. Sie blinzelte und strengte sich sehr an, etwas zu erkennen, trotzdem entdeckte sie den Mann erst, als er fast schon vor ihr stand. Erschrocken fuhr Rica zurück, hatte dabei allerdings die Skier vergessen. Wild mit den Armen rudernd, rang sie um Gleichgewicht, verlor den Kampf jedoch und stürzte nun zum zweiten Mal in drei Tagen in eine Schneewehe. Dieses Mal war sie glücklicherweise nicht ganz so tief wie an dem Abend, als sie dem Psychopathen begegnet waren.
Der Mann blieb einen Moment lang ganz ruhig stehen und sah auf Rica herab. Sie hatte das Gefühl, dass er heimlich über sie lachte, aber sehen konnte sie das nicht. Er trug eine verdunkelte Skibrille und hatte die Kapuze seines Anoraks tief in die Stirn gezogen. Der Verschluss der Kapuze verdeckte die gesamte untere Gesichtshälfte, sodass allein die Nase zu sehen war. Rica rieb sich die Augen, aber tatsächlich konnte sie auch sonst keine besonderen Aussagen über den Mann treffen. Seine Klamotten waren in Schnee-Tarnfarben gehalten, die seinen Umriss irgendwie ständig mit dem Wald verschwimmen ließen. Vermutlich hatte sie ihn deswegen auch erst so spät gesehen. Eines jedoch war ihr klar: Das hier war nicht der Mann mit dem Dackel. Dieser Mann hier war ein Stück größer und breitschultriger.
»Bist du in Ordnung?« Die Stimme des Mannes war eine Überraschung. Warm und freundlich und irgendwie vertrauenerweckend.
»Ich bin okay«, erwiderte sie und kämpfte sich auf die Beine zurück.
»Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken«, entschuldigte der Mann sich. Rica hatte auf einmal das starke Gefühl, dass sie diese Stimme schon einmal gehört hatte, konnte sie jedoch nicht einordnen.
»Nicht Ihre Schuld. Ich bin gerade etwas schreckhaft«, gab Rica zu und klopfte sich den Schnee von den Kleidern. »Was machen Sie eigentlich hier?« Sobald die Worte heraus waren, wurde ihr bewusst, dass sie sich grob unhöflich verhielt, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, bei diesem Mann damit durchkommen zu können.
Tatsächlich lachte er. »Ich gehe spazieren«, meinte er in einem Tonfall, der klarmachte, dass Rica alles andere nichts anging.
»Bei diesem Wetter? In Tarnkleidung?« Rica legte den Kopf schief und musterte den Kerl vor sich noch mal von oben bis unten. »Das soll ich Ihnen jetzt glauben? Ganz so blöd, wie ich aussehe, bin ich dann doch nicht.«
Wieder lachte der Mann, aber dieses Mal glaubte Rica, so etwas wie
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