Optimum - Kalte Spuren
unten nicht mehr zu sehen waren. Der verschlungene Weg, die Straße in der Ferne, die eindrucksvolle Berglandschaft – alles war im Weiß verschwunden. Dicke, graue Wolken hingen so tief über den Bergen, dass Rica den Eindruck hatte, sie müsste nur die Hand danach ausstrecken, um sie berühren zu können. Und noch immer fiel Schnee, still, sanft und unerbittlich.
»Fuck.«
Rica hatte es nur gemurmelt, aber offensichtlich reichte das, um Nathan zu wecken. Er stöhnte, wälzte sich auf die Seite und kam langsam auf die Füße. Er taumelte neben Rica ans Fenster und starrte ungläubig in den Schnee hinaus.
»Ich hasse diesen Scheißschnee«, meinte er dann und ließ sich wieder auf seine Matratze fallen.
»Was machen wir jetzt?«, wollte Rica wissen, während sie zum Bett zurücktapste. »Da kommt doch nie jemand zu uns durch.«
Nathan zuckte mit den Schultern und wickelte sich seine Bettdecke um die Füße. »Ach doch, wenn die erst mal ein Schneemobil haben oder so. Außerdem taut das bestimmt in ein paar Tagen wieder weg.«
Rica verzog das Gesicht. »Du musst nicht versuchen, mich zu beruhigen. Ich bin ein großes Mädchen.«
Nathan zuckte wieder mit den Schultern. »Also gut. Wir werden alle hier sterben. Ist das besser?«
Rica grinste flüchtig, obwohl ihr überhaupt nicht danach war.
»Wenn ihr beide schon die ganze Nacht keine Ruhe gebt, könntet ihr dann jetzt wenigstens still sein?«, maulte Eliza aus ihrem Bett herüber. Sie lag noch immer komplett zugedeckt da und hatte den Kopf in ihrem Kissen vergraben.
Rica bekam sofort ein schlechtes Gewissen. »Bist du okay?«
»Ich bin scheißmüde und hab Kopfschmerzen«, kam die prompte Antwort. »Könnt ihr euch nicht verziehen?«
Nathan und Rica warfen sich einen raschen Blick zu.
»Okay, wir gehen.« Sie sah noch einmal zu Eliza zurück, aber die rührte sich nicht.
Der Aufenthaltsraum war stockfinster. Rica kam sich vor, als würden sie über die Treppe in eine Höhle hinuntersteigen, jeden Augenblick konnten Tropfsteine auftauchen. Der allgemeine Zustand des Zimmers machte diesen Eindruck nicht besser. Offensichtlich hatte nach der Schlägerei gestern hier niemand mehr aufgeräumt, es lagen immer noch umgestoßene Bänke und Stühle herum, zerbrochenes Geschirr und verloren gegangene Kleidungsstücke. Spielkarten waren dazwischen verteilt wie überdimensional großes Konfetti. Rica suchte sich ihren Weg durch Scherben und Müll bis zum Kamin, nur um dort nichts als kalte Asche vorzufinden. Das letzte bisschen Glut war über Nacht erloschen, weil sich niemand darum gekümmert hatte, abends noch Holz nachzulegen.
»Hier geht alles vor die Hunde«, meinte Nathan. »Komm, Rica, aufräumen!«
»Warum?«, protestierte sie. »Ich hab den Dreck nicht gemacht. Also zumindest nicht allein.«
»Weil es jemand machen muss und außer uns keiner hier ist. Und was meinst du, wie die Stimmung nach letzter Nacht ist, wenn die Ersten hier reinkommen und das Zimmer so vorfinden.«
»Wenn du mich fragst, sollten wir erst mal den Schnee vor den Fenstern wegräumen, das würde das Zimmer gleich viel heller und freundlicher machen«, ätzte Rica, aber sie musste zugeben, dass Nathan recht hatte. Wenig motiviert begann sie, die Bänke wieder aufzurichten, während Nathan in der Küche nach einem Besen suchte.
Tatsächlich merkte Rica, dass Nathans Idee gar nicht so schlecht war. Die körperliche Arbeit tat ihr gut und lenkte sie von ihren finsteren Gedanken ab. Es fiel schwer, an Serienmörder zu denken, wenn man den Dreck von einer ganzen Horde Wilder aufräumen musste.
Bestimmt eine halbe Stunde lang arbeiteten sie schweigend, Rica richtete Möbel, räumte Tische ab und sammelte die Sachen ein, die noch zu retten waren. Nathan fegte, putzte und kümmerte sich um den Müll. Etwa zehn Minuten nachdem sie angefangen hatten, gesellten sich Jasmin und ein weiteres junges Mädchen zu ihnen und halfen mit, ohne ein Wort zu verlieren.
Gemeinsam schafften sie es, das Chaos halbwegs zu beseitigen, und standen danach einträchtig schweigend nebeneinander. Es war der erste Moment, in dem Rica so etwas wie Zuneigung zu den Avenir-Schülern empfand.
»Was jetzt?«, meinte Nathan, und Rica war erstaunt zu sehen, dass er offensichtlich die beiden Jüngeren in die Frage miteinbezog.
»Frühstück?«, schlug Jasmin vorsichtig vor. »Wer hat denn Küchendienst?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Rica. »Ich glaube, der Plan ist mit Herrn Röhling ins Krankenhaus gefahren.«
»Ich
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